OSTHESSEN|NEWS-Sportgespräch (31)
Matthias Wilde: Viele Menschen sind angewidert vom Big Business Fußball
Fotos: Finn Rasner
07.12.2022 / FULDA -
Er ist einer der renommiertesten und angesehensten Fußball-Trainer Osthessens. Gemeint ist Matthias Wilde, der mit dem SV Flieden einst in die Hessenliga aufstieg, aktueller Coach des Gruppenligisten FV Horas ist und seit 15 Jahren als Trainer des DFB-Stützpunktes Fulda im Nachwuchsbereich fungiert. Im OSTHESSEN|NEWS-Sportgespräch nimmt der 64-Jährige Stellung zum Ausscheiden des DFB-Teams bei der WM in Katar, zur Situation seines FVH und der Lage des Nachwuchsfußballs in der Region.
Im O|N-Sportgespräch lassen wir immer Menschen aus verschiedenen Sportarten der Region zu Wort kommen. Wir erzählen die Geschichte hinter der Geschichte. Heute folgt Teil 32 der Serie.
O|N: Die WM in Katar läuft. Welchen Endruck hast du vom Turnier?
Matthias Wilde: Ich hab' viele Spiele gesehen. Und da waren einige dabei, in denen man das Gefühl hatte: Das macht eine WM aus. Wie viele Gruppenspiele über das Weiterkommen entschieden haben, das war schon mega-spannend.
Sind die Fehler des Bundestrainers Hansi Flick ursächlich gewesen? Etwa die Wechsel im ersten Spiel gegen Japan?
Wilde: Da hat sich der DFB vielleicht zu sehr der öffentlichen Meinung in Deutschland gebeugt. Deswegen hat die Mannschaft aber doch nicht besser oder schlechter Fußball gespielt. In keinem anderen Land hat die Sache "Menschenrechte" solch eine Rolle gespielt wie in Deutschland. In Brasilien oder Japan interessiert das niemanden. Da muss ich Christoph Kramer, dem besten Fachmann unter den Experten, recht geben: Das interessiert die Spieler überhaupt nicht. Da werden nachher irgendwelche Erklärungsansätze gesucht. Blödsinn.
Sollte Flick bleiben?
Wilde: Ich bin kein Freund von Aktionismus. Wen sollten wir denn hinstellen? Wir sollten die EM abwarten. Es ist kein einfacher Job, in Deutschland Bundestrainer zu sein. Wir haben mehr als 80 Millionen davon.
Wo steht der deutsche Fußball? Jedenfalls der des DFB-Teams, das jetzt dreimal in Folge bei einem großen Turnier früh ausgeschieden ist?
Wilde: Wenn wir ins Achtelfinale gekommen wären, würde kein Mensch fragen, wo steht der deutsche Fußball. Bedenklich ist: Früher hat Fußball die Menschen auch in Krisenzeiten, so wie wir sie jetzt haben, zusammen gehalten. Das schafft er offensichtlich nicht im Moment. Ich habe kein einziges Auto mit Fähnchen gesehen. In Supermärkten auch keine Fanartikel-Verkäufe wahrgenommen. Die Nationalmannschaft ist eine Randnotiz.
Woran liegt das?
Wilde: Viele Menschen sind mittlerweile angewidert vom Big Business Fußball. Da wird von der Super League gesprochen. Die nächste WM wird auf 48 Mannschaften ausgedehnt. Es geht nur noch ums Geld. Das spüren die Leute. Deshalb wenden sich viele ab.
Wilde: Um dauerhaft etwas zu ändern, muss man unten anfangen. Ich arbeite selber in der Nachwuchsförderung. Im Spitzen-Nachwuchsfußball geht es zu stark um Ergebnisse bei den Top-Vereinen. Und die Vereine sind die, die unsere Top-Spieler ausbilden müssen. Weil das zu sehr ergebnisorientiert ist, gelangen viele talentierte Nachwuchsfußballer nicht mehr nach oben. Das Problem sind nicht die U19- oder U17-Mannschaften.
Sondern?
Wilde: Bis zur U16 sollte nicht ergebnisorientiert gearbeitet werden. Das muskuläre Wachstum der Nachwuchsspieler ist entscheidend. Die Spieler, bei denen das Wachstum - nicht das körperliche, sondern das muskuläre - später einsetzt und die nicht mehr berücksichtigt werden, verlieren wir komplett. Warum sollten die schlechter sein als Frühentwickler?
Und das heißt konkret?
Wilde: Es wird keiner ausgebildet, um Mittelstürmer zu werden. Oder Außenverteidiger. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die besten Außenverteidiger der Welt ausgebildet wurden - sondern sie haben sich dazu entwickelt. Viele Weltklasse-Spieler sind auf ihrer Position zu Weltklasse-Spielern geworden, weil ein Trainer sie mal auf diese Position gestellt hat. Ich halte das für einen großen Fehler, man könnte Hrubesch, Müller oder Benzema ausbilden.
Wilde: Das stand schon vor der Saison fest. Das weiß auch jeder im Verein. Und der jetzige Verlauf trägt nicht dazu bei, dass sich meine Meinung ändern wird. Es bleibt dabei.
Ihr seid Fünftletzter, habt zu Aufsteiger Hofbieber und Oberzell/Züntersbach Kontakt. Thalau und Kerzell sind in größerer Reichweite. Dann hört's auf. Fünf Direktabsteiger in der Gruppenliga sind ein hartes Brot - oder?
Wilde: Der Sechstletzte muss in die Relegation. Unverständlich, dass, wenn es der Sechstletzte nicht schafft, mehr als ein Drittel der Liga absteigen müssen. Das sind die Nachwirkungen der Corona-Saison. Man versucht, die hohe Abstiegsregel übers Knie zu brechen und zu korrigieren.
Bist du mit dem bisherigen Verlauf der Runde - zwei Spiele der Rückserie sind absolviert - dennoch zufrieden?
Wilde: Wenn fünf Spieler dauerhaft ausfallen (Cedric Keller, Daniel Fabrizius, Jason Lacis, Farhad Malik und Leon Panfil haben ausnahmslos einen Kreuzbandriss), dann leidet der ganze Trainingsablauf. Zu diesen Spielern kommen die, die ganz normal fehlen (Zerrung, Erkrankung, berufliches Verhindert-Sein). Der Charakter unserer Mannschaft ist dennoch sehr gut. Vor allem auf dem Platz. In den letzten neun Spielen haben wir immerhin 16 Punkte geholt. Ich habe 34 Spieler eingesetzt. Dass nicht alle das gleiche Niveau haben, liegt auf der Hand. Trotzdem haben sie alles gegeben. Immer Charakter gezeigt. Egal, wer auf dem Platz stand.
Wie hat sich die Situation in der jüngeren Vergangenheit entwickelt beim Traditionsverein vom Aschenberg?
Wilde: Im Moment ist sie schwierig. Nicht nur bei der Ersten - auch, weil wir die A-Jugend zurückziehen mussten. Wir müssen unbedingt versuchen, dass das wieder ins Laufen kommt. Wir sind ein Verein, der nicht mit Geld locken kann und auf den eigenen Nachwuchs angewiesen ist.
Mittlerweile tragt ihr eure Heimspiele wieder zu Hause an der Einhardstraße aus. Wie war das Gefühl, erst auf den BGS-Platz und dann auf den Kunstrasen in der Johannisau ausweichen zu müssen?
Wilde: Die Stadt hat die Ausweichplätze problemlos zur Verfügung gestellt. Doch für den Verein und für die Mannschaft war es eine Katastrophe. Vereinsleben ist mehr als die Spiele der Mannschaften. Es hat in diesen anderthalb Jahren gelitten. Es hat quasi nicht mehr stattgefunden ist jetzt auch sehr schwer wiederzubeleben. Menschen, die früher bei jedem Heimspiel an unserem Platz zu Besuch waren, kommen jetzt nicht mehr.
Zurück zum Sportlichen. Gibt es in der Winterpause Neuzugänge?
Wilde: Wir sind intensiv dran und versuchen, uns breiter aufzustellen.
Der FV Horas schafft den Klassenerhalt, weil ...
Wilde: Unsere Mannschaft einen guten Charakter hat.
Kurz zum Nachwuchs in Osthessen. Du als DFB-Stützpunkttrainer hast ja ein spezielles Auge darauf. Wie steht es um den Nachwuchs?
Wilde: In der Spitze ganz ordentlich - in der Breite sehr schlecht. Ein Beispiel: Vor zwölf Jahren habe ich mit der Horaser E-Jugend die Hallenkreismeisterschaft gespielt, da haben noch 89 Mannschaften teilgenommen - in diesem Jahr sind es 46. Das zeigt den massiven Rückgang. Es fehlen Spieler. Kinder, die Fußball spielen möchten. Und die mangelnde Breite wirkt sich auf die Spitze aus. In der A-Jugend-Kreisklasse spielen Mannschaften aus drei Kreisen in Osthessen - da fährst du zu Spielen genauso weit wie in der Gruppenliga. Und in der A-Jugend-Gruppenliga gibt es keine einzige eigenständige Mannschaft mehr. Die Situation im Nachwuchs ist desolat. Und das Niveau ist definitiv schlechter geworden.
Zur Person
MATTHIAS WILDE ist verheiratet, hat zwei Kinder (Alina, 26 und Lennart, 23) - und sein Heimatverein ist der FV Horas.
Stationen als Spieler: Als es nur Schüler und Jugend gab, fing er im Alter von zehn oder elf an zu kicken. Seine Jugendzeit durchlebte er in Horas. Als es ihn zum BWL-Studium nach Göttingen verschlug, spielte er beim FC Grone und dem FC Osterode in der damals vierten Liga, der Niedersachsen-Liga. Zurück in Fulda, kickte er ein Jahr bei Germania und vier Jahre bei Borussia (mit Kress, Michel, Hofmann, Hirsch, Hack, Diegmüller, Kowarz oder Zientek).
Stationen als Trainer: Dem Job in Freiensteinau folgten drei Jahre beim SV Flieden, 1996 stieg das Team in die Hessenliga auf (mit Gitter, Arndt, Bohl, Czekalla oder Sesic). Tätigkeiten in Steinhaus und zweimal beim SVA Bad Hersfeld folgten. 2005 kehrte er als Coach zu seinem FV Horas zurück. Er übernahm die Bambini und führte die Nachwuchskicker bis hoch in die A-Jugend, eine "Goldene Generation" entstand - von der mit Claudius Eckhard, Daniel und Thomas Fabrizius sowie Thomas Pekalla noch vier Spieler übrig sind. Seit 2007 ist er Trainer des DFB-Stützpunktes Fulda, an der Seite von André Wohnig sowie den Petersbergern Knut Seuring und Mathias Lissek). (wk) +++
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