Was wir lesen, was wir schauen (108)

Barbara Robinson, Hilfe die Herdmanns kommen - He, euch ist ein Kind geboren

Unsere selbstgebastelte Krippe steht seit 1966 unter dem Weihnachtsbaum - eine ‚richtige‘ Krippe haben wir immer abgelehnt
© Jutta Hamberger

08.12.2024 / FULDA - Fast 55 Jahre alt ist dieser Weihnachtsklassiker inzwischen, der von den schlimmsten Kindern im Wohnblock erzählt, die dann aber doch das realistischste, wunderbarste und eigenwilligste Krippenspiel aller Zeiten hinlegen. Ich habe es unzählige Male gelesen und vorgelesen, und es tief ins Herz geschlossen. Nachdenklicher und humorvoller kann man kaum über ‚christliche Werte‘ nachdenken.



Die schrecklichsten Kinder?

"Sie waren wirklich so rundherum schrecklich, dass man kaum glauben konnte, dass es sie wirklich gab: Ralf, Eugenia, Leopold, Klaus, Olli und Hedwig – sechs magere, dünnhaarige Kinder, die sich nur dadurch unterschieden, dass sie unterschiedlich groß waren und an verschiedenen Stellen blaue Flecken aufwiesen, die sie sich gegenseitig beigebracht hatten." So stellt Erzählerin Lisa uns die Herdmanns vor. In dem kleinen Ort, in dem sie leben, verbreiten sie Angst und Schrecken, und ziemlich viel Chaos.

Keiner will sie, alle sind froh, wenn sie nichts mit ihnen zu tun haben: "Die Herdmanns wanderten von Klasse zu Klasse durch die Woodrow-Wilson-Schule, von einem Lehrer zum anderen. Aber nie blieb einer von ihnen sitzen. (…) Das war eben die Sache mit den Herdmanns: Es kam immer einer nach. Und kein Lehrer war so verrückt, sich mit zweien von ihnen auf einmal einzulassen." Einen Vater Herdmann gibt es nicht mehr, der hat sich schon vor Jahren aus dem Staub gemacht, die Mutter arbeitet zwei Schichten in einer Schuhfabrik. Ein Setting, das leicht in Sozialkitsch über milieugeschädigte Kinder abrutschen könnte, tut es aber nicht, weil es dafür viel zu absurd, komisch und anrührend ist.

Ein Krippenspiel mit neuen Akzenten

Charlie, der jüngere Bruder der etwa 14-jährigen Erzählerin, ist in der Schule in einer Klasse mit Eugenia Herdmann und spielt jedes Jahr beim weihnachtlichen Krippenspiel mit. Als Hirte. So wäre es auch dieses Jahr gekommen, wenn Frau Armstrong sich nicht ein Bein gebrochen hätte und das Krippenspiel unter anderer Leitung laufen muss. Frau Armstrong bittet Frau Bradler, Charlies Mutter, darum und erklärt ihr lang und breit, wie alles abläuft, denn es soll ja auch in diesem Jahr so sein wie immer: "Unterstufenkinder spielen Engel, Mittelstufenkinder spielen die Hirten, große Jungen die Heiligen Drei Könige, und Edgar Hopper, der Sohn des Pfarrers, spielt den Josef schon so lange, wie ich zurückdenken kann. Und meine Freundin Alice Wendlaken ist die Maria, weil sie so schick, so sauber und so ordentlich ist und vor allen Dingen. Weil sie so heilig aussieht."

So lief es bei der resoluten Frau Armstrong alljährlich ab, nicht aber in diesem Jahr: Erstmals spielen die Herdmanns beim Krippenspiel mit. Nein, so ist das falsch – sie spielen nicht mit, sie spielen sämtliche Hauptrollen und adaptieren dabei den altehrwürdigen Text gleich mal so, dass er in ihre Welt und zu ihrem Verständnis passt. Das ganze Städtchen befürchtet das Allerschlimmste, denn natürlich wähnt man sich der Herdmann-Sippe weit überlegen. Die Herdmanns lügen, trinken, rauchen und stehlen, sind nicht sonderlich reinlich und verprügeln gern mal ihre Klassenkameraden. In der Kirche sieht man sie nie, in der Sonntagsschule auch nicht. Und die sollen im Krippenspiel mitwirken? Sie haben doch gar keine Ahnung von der Weihnachtsgeschichte. Die Empörung der Aufrechten ist groß.

Ein Krippenspiel wird von Routinen befreit

Nun, von Weihnachtskitsch und Weihnachtsflitter haben die Herdmanns wirklich keine Ahnung, einfach, weil es beides in ihrem Leben nicht gibt. Auch die Weihnachtsgeschichte ist Neuland für sie. Viele Begriffe sind ihnen unverständlich, was ist denn eine Herberge, was ist Myrrhe, und wieso sagt man ‚gesegneten Leibes‘, wenn eine Frau schwanger ist? Die Herdmanns sind wütend, weil es in keiner Herberge Platz für Jesus gab. Sie verstehen, dass manche Menschen für Babys kein Bett haben, die kleine Hedwig lag bei ihnen zuhause schließlich auch in einer Schublade. Aber Eugenia versteht nicht, wieso keine Jugendfürsorge kommt und nach dem Rechten sieht – ein Baby in Windeln und in einem Futtertrog, wo gibt’s denn so was?

Der Engel des Herrn erinnert sie an Batman, sie gehen davon aus, dass die Heiligen Drei Könige dem Wirt die Meinung geigen werden und das Kind aus dem Futtertrog rausholen. Über die mickrigen Geschenke der Könige sind sie entsetzt – auf jedem Feuerwehrfest gibt es Besseres. Dass Herodes nicht mitspielt, missfällt ihnen – weil sie ihn nur zu gern verprügelt hätten. Und dass die Weihnachtsgeschichte nicht gerade viele Infos über ihn bereithält, führt zu ausgedehnten Herodes-Recherchen in der Bibliothek.

Ein Krippenspiel zeigt seine wahre Botschaft

Mit anderen Worten: Durch ihre Direktheit kommen die Herdmanns auf den Kern der Geschichte, und zwar in rasendem Tempo. Sie lenkt weder Tradition noch Weihnachtszauber ab – sie sehen das Existentielle und Bedrohliche, mit dem Jesu‘ Geschichte in der Welt beginnt. Sie kennen keine Krippenspiel-Routinen. Erzählerin Lisa ist so berührt wie alle anderen: "Für mich war das Merkwürdigste, dass ich jahrelang über das Wunder von Weihnachten und das Geheimnis von Jesu Geburt nachgedacht und es nie wirklich verstanden hatte. Aber jetzt, durch die Herdmanns, schien mir das alles gar nicht mehr so geheimnisvoll."

Barbara Robinson (1927-2013) schafft es, dass wir Weihnachten durch die Augen der Herdmanns sehen. Plötzlich sehen wir die Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten, erkennen den tiefen Schrecken, spüren, wie erstarrt in Routinen wir Weihnachten oft denken und feiern. Die Herdmanns holen die Geschichte in unsere Gegenwart und stellen uns so durchaus unangenehme Fragen zur Wahrhaftigkeit unserer eigenen Werte. Wir mögen uns besser und heiliger vorkommen, wir sind es nicht. So oft und gern man auf den Seiten des Büchleins lacht, so nachdenklich ist man am Ende.
(Jutta Hamberger)+++

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