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Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt

Auf dem Oktoberfest
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17.09.2023 / REGION - Von 1927 bis 1930 schrieb Lionel Feuchtwanger "Erfolg", einen Roman, der noch viel hellsichtiger war, als sein Autor es intendierte. Der Untertitel lautet "Drei Jahre Geschichte einer Provinz", es geht um – Bayern. Die Headline dieses Artikels ist ein Zitat aus dem Roman. Versuchen wir also, mit Feuchtwanger dieses Bayern besser zu verstehen, dessen Akteure uns mit Flugblättern und Bierzeltgetöse in diesen Wochen so verstört haben.



Muff und Mief nicht nur unter Talaren

Christine Schanderl, heute Roth, flog 1980 für ihren Protest gegen den Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß von einem bayerischen Gymnasium und erinnert sich im Spiegel vom 01.09.23 an das geistige Klima jener Jahre, das auch Aiwangers Flugblatt möglich machte. Sie empfiehlt, zur Immunisierung Feuchtwanger zu lesen, und zwar vor allem den Roman "Erfolg". Er schildere, "wie die damalige reaktionäre bayerische Staatsregierung die Verbrechen der Nazi-Schlägerbanden und Freikorps verharmloste und wie Hitlers Aufstieg im Freistaat begünstigt wurde. Wegen dieses Buchs musste Feuchtwanger 1933 nach Frankreich emigrieren. Der Roman ist ein Sittengemälde. Wenn man ihn liest, versteht man auch sehr viel über das Bayern der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre, denn es gab eine klare Kontinuität."

Ich bin ihrer Empfehlung mit großer Lesefreude gefolgt. Im Zentrum von "Erfolg" steht der Museumsdirektor und Kunstkritiker Martin Krüger. Seine fortschrittlichen Ansichten stoßen den konservativen Kreisen Münchens auf. Krüger hatte ein Gemälde angeschafft und ausgestellt, das im München der frühen 1920er Jahre als anstößig gilt. Es kommt zu einer politisch motivierten Anklage, die bayerische Staatsregierung will den "Linken" Krüger loswerden. Der Droschkenfahrer Ratzenberger macht die entscheidende Falschaussage im Prozess, Krüger wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Dass Krügers Verteidiger Dr. Siegbert Geyer Jude ist, macht die Sache nicht besser.

Klarsichtiger Blick auf das sich ankündigende Dritte Reich

Kommt Ihnen das vertraut vor? Zu erahnen ist die Unrechts-Justiz des Dritten Reichs, in der das Gemälde, um das es hier geht, als "entartete Kunst" bezeichnet worden wäre, und natürlich ist es alles andere als stammtisch-tauglich. Krügers Freundin Johanna bemüht sich um seine Freilassung, sie kontaktiert viele Würdenträger bis hinauf zum abgedankten Monarchen. Otto Klenk, der Justizminister, ist ihr ärgster Widersacher mit einer perfiden Strategie: Er schränkt die Verteidigung Krügers nicht ein, solange der Ausgang des Schauprozesses klar ist. Kurz vor seiner Freilassung stirbt Krüger an Herzschwäche.

Ein historischer Roman aus der Zukunft

Das ist die Haupthandlung. Dazu gibt es zahlreiche Nebenhandlungen um Personen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Feuchtwanger gestaltet seine Figuren als einen Mix aus fiktiv und historisch, es ist das pralle Leben. Alles spielt sich in München ab, München selbst spielt als "ungewöhnlich erkenntnislose Stadt, von ihrer Struktur und Bevölkerung her eine Siedlung mit stark bäuerlichem Einschlag"eine bedeutende Rolle im Roman. Wir sehen auch, wie und warum sich der Faschismus im eher provinziellen Bayern allmählich entwickelt.

Feuchtwanger erfand für diesen historischen Roman etwas ganz Neues. Er war 1925 nach Berlin gezogen und wollte einen Bayernroman so schreiben, als schriebe er ihn im Jahr 2000. So stellt er eine Distanz zu den Geschehnissen her und weckt den Eindruck, die Ereignisse lägen weit in der Vergangenheit. Wenn Sie so wollen – ein aus der Zukunft gedachter Roman über die Vergangenheit, historisch weniger durch den Stoff als durch seine Methodik. Nicht so sehr die Handlung, sondern vielmehr die Personen treiben die Geschichte voran.

Viele Figuren des Romans konnte man entschlüsseln. Hinter Jacques Tüverlin und Johanna Krain verstecken sich Feuchtwanger selbst und seine Frau Marta. Kaspar Pröckl ist Feuchtwangers Freund Bertolt Brecht. Eine lustige kleine Anekdote hierzu: Feuchtwanger war davon überzeugt, dass niemand diese Verschlüsselung auflösen würde. Aber Brecht erkannte sich sofort wieder und diskutierte das intensiv mit dem Freund, der daraufhin einige Veränderungen vornahm. Josef Pfisterer ist Ludwig Ganghofer, Lothar Matthäi Ludwig Thoma, und Balthasar Hierl ist kein Geringerer als Karl Valentin. Sebastian von Grueber, der das "Museum der Technik" in München gründet, ist Oskar von Miller. Franz Flaucher ist der bayerische Ministerpräsident Gustav von Kahr

Und dann ist da noch Rupert Kutzner und seine politische Bewegung der "Wahrhaft Deutschen", die immer mächtiger wird und breite Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Kutzner wird von den bayerischen Konservativen unterstützt und steigt unaufhaltsam auf. Der Monteur, der sich selbst als politischen Schriftsteller bezeichnet, ist Hitler. Was der wohl von seiner Beschreibung im Roman gehalten hat – wenn er sie denn kannte? "Mit heller, manchmal leicht hysterischer Stimme deklamierte er; mühelos von langen, blassen Lippen flossen ihm die Worte; mit eindringlichen Gesten, wie er sie predigenden Landpfarrern abgesehen hatte, unterstützte er seine Rede. (…) Schwieg der Monteur Kutzner, so gaben die dünnen Lippen mit dem winzigen, dunklen Schnurrbart und das pomadig gescheitelte Haar über dem fast hinterkopflosen Schädel dem Gesicht eine maskenhafte Leere." Dass der Chauffeur Ratzenberger ein Fan Kutzners und seiner "einfachen, leicht fasslichen Ideen" ist, ist fast unvermeidlich. Er wie seine Stammtischkumpane haben nichts übrig für nüchterne Ideen, sehr wohl aber für Kutzners Programm, das "ihrem Bedürfnis nach Romantik schmeichelte. Überall sahen sie heimliche Bünde und Komplotte; wenn der Tarif der Autodroschken herabgesetzt wurde, erblickten sie in dieser Maßnahme die Hand der Freimaurer, der Juden, der Jesuiten."

Eine noch immer aktuelle Gesellschaftssatire

In den Roman eingestreut sind immer wieder theoretische Einwürfe, das geht von der Landwirtschaft bis zur Justiz. Der Roman zeugt auch von Feuchtwangers Hassliebe zu München. München ist in diesem Roman eine Stadt, die mehr sein will als sie ist, großspurig, bierdumpf und in ihrem Kern bäuerlich. So heißt es über die Feldherrnhalle, sie sei "eine Nachbildung der Loggia dei Lanzi, errichtet den beiden größten bayerischen Feldherren, Tilly und Wrede, von denen einer kein Bayer und der andere kein Feldherr war".

"Erfolg" ist der erste Roman von Feuchtwangers sogenannter Wartesaal-Trilogie, 1933 folgten "Die Geschwister Oppenheim" und 1940 "Exil". In allen drei Romanen geht es um das Erstarken der NS-Barbarei, die die Vernunft fast auslöscht. Immer wieder spricht Feuchtwanger von einer Politik, die nicht auf Fakten, sondern nur auf Gefühlen beruht. Kaum ein Autor wurde von den Nationalsozialisten so vehement gehasst wie Feuchtwanger, das liegt vor allem an diesem Roman. Feuchtwanger wurde sofort nach der Machtergreifung aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, seine Bücher wurden verbrannt und verboten.

Wir aber, als Nachgeborene, erfreuen uns an Feuchtwangers praller Sprache, seinen präzisen Beobachtungen, seinem klaren Blick auf die Geschehnisse und seiner Lust am Fabulieren. Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt – sogar in Bayern.
(Jutta Hamberger)+++

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