Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
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17.09.2023 / REGION -
Von 1927 bis 1930 schrieb Lionel Feuchtwanger "Erfolg", einen Roman, der noch viel hellsichtiger war, als sein Autor es intendierte. Der Untertitel lautet "Drei Jahre Geschichte einer Provinz", es geht um – Bayern. Die Headline dieses Artikels ist ein Zitat aus dem Roman. Versuchen wir also, mit Feuchtwanger dieses Bayern besser zu verstehen, dessen Akteure uns mit Flugblättern und Bierzeltgetöse in diesen Wochen so verstört haben.
Muff und Mief nicht nur unter Talaren
Klarsichtiger Blick auf das sich ankündigende Dritte Reich
Ein historischer Roman aus der Zukunft
Feuchtwanger erfand für diesen historischen Roman etwas ganz Neues. Er war 1925 nach Berlin gezogen und wollte einen Bayernroman so schreiben, als schriebe er ihn im Jahr 2000. So stellt er eine Distanz zu den Geschehnissen her und weckt den Eindruck, die Ereignisse lägen weit in der Vergangenheit. Wenn Sie so wollen – ein aus der Zukunft gedachter Roman über die Vergangenheit, historisch weniger durch den Stoff als durch seine Methodik. Nicht so sehr die Handlung, sondern vielmehr die Personen treiben die Geschichte voran.
Viele Figuren des Romans konnte man entschlüsseln. Hinter Jacques Tüverlin und Johanna Krain verstecken sich Feuchtwanger selbst und seine Frau Marta. Kaspar Pröckl ist Feuchtwangers Freund Bertolt Brecht. Eine lustige kleine Anekdote hierzu: Feuchtwanger war davon überzeugt, dass niemand diese Verschlüsselung auflösen würde. Aber Brecht erkannte sich sofort wieder und diskutierte das intensiv mit dem Freund, der daraufhin einige Veränderungen vornahm. Josef Pfisterer ist Ludwig Ganghofer, Lothar Matthäi Ludwig Thoma, und Balthasar Hierl ist kein Geringerer als Karl Valentin. Sebastian von Grueber, der das "Museum der Technik" in München gründet, ist Oskar von Miller. Franz Flaucher ist der bayerische Ministerpräsident Gustav von Kahr
Und dann ist da noch Rupert Kutzner und seine politische Bewegung der "Wahrhaft Deutschen", die immer mächtiger wird und breite Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Kutzner wird von den bayerischen Konservativen unterstützt und steigt unaufhaltsam auf. Der Monteur, der sich selbst als politischen Schriftsteller bezeichnet, ist Hitler. Was der wohl von seiner Beschreibung im Roman gehalten hat – wenn er sie denn kannte? "Mit heller, manchmal leicht hysterischer Stimme deklamierte er; mühelos von langen, blassen Lippen flossen ihm die Worte; mit eindringlichen Gesten, wie er sie predigenden Landpfarrern abgesehen hatte, unterstützte er seine Rede. (…) Schwieg der Monteur Kutzner, so gaben die dünnen Lippen mit dem winzigen, dunklen Schnurrbart und das pomadig gescheitelte Haar über dem fast hinterkopflosen Schädel dem Gesicht eine maskenhafte Leere." Dass der Chauffeur Ratzenberger ein Fan Kutzners und seiner "einfachen, leicht fasslichen Ideen" ist, ist fast unvermeidlich. Er wie seine Stammtischkumpane haben nichts übrig für nüchterne Ideen, sehr wohl aber für Kutzners Programm, das "ihrem Bedürfnis nach Romantik schmeichelte. Überall sahen sie heimliche Bünde und Komplotte; wenn der Tarif der Autodroschken herabgesetzt wurde, erblickten sie in dieser Maßnahme die Hand der Freimaurer, der Juden, der Jesuiten."
Eine noch immer aktuelle Gesellschaftssatire
"Erfolg" ist der erste Roman von Feuchtwangers sogenannter Wartesaal-Trilogie, 1933 folgten "Die Geschwister Oppenheim" und 1940 "Exil". In allen drei Romanen geht es um das Erstarken der NS-Barbarei, die die Vernunft fast auslöscht. Immer wieder spricht Feuchtwanger von einer Politik, die nicht auf Fakten, sondern nur auf Gefühlen beruht. Kaum ein Autor wurde von den Nationalsozialisten so vehement gehasst wie Feuchtwanger, das liegt vor allem an diesem Roman. Feuchtwanger wurde sofort nach der Machtergreifung aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, seine Bücher wurden verbrannt und verboten.
Wir aber, als Nachgeborene, erfreuen uns an Feuchtwangers praller Sprache, seinen präzisen Beobachtungen, seinem klaren Blick auf die Geschehnisse und seiner Lust am Fabulieren. Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt – sogar in Bayern.
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