Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
© Wikipedia/oktoberfest-2723441_1920
17.09.2023 / REGION -
Von 1927 bis 1930 schrieb Lionel Feuchtwanger "Erfolg", einen Roman, der noch viel hellsichtiger war, als sein Autor es intendierte. Der Untertitel lautet "Drei Jahre Geschichte einer Provinz", es geht um – Bayern. Die Headline dieses Artikels ist ein Zitat aus dem Roman. Versuchen wir also, mit Feuchtwanger dieses Bayern besser zu verstehen, dessen Akteure uns mit Flugblättern und Bierzeltgetöse in diesen Wochen so verstört haben.
Muff und Mief nicht nur unter Talaren
Klarsichtiger Blick auf das sich ankündigende Dritte Reich
Ein historischer Roman aus der Zukunft
Feuchtwanger erfand für diesen historischen Roman etwas ganz Neues. Er war 1925 nach Berlin gezogen und wollte einen Bayernroman so schreiben, als schriebe er ihn im Jahr 2000. So stellt er eine Distanz zu den Geschehnissen her und weckt den Eindruck, die Ereignisse lägen weit in der Vergangenheit. Wenn Sie so wollen – ein aus der Zukunft gedachter Roman über die Vergangenheit, historisch weniger durch den Stoff als durch seine Methodik. Nicht so sehr die Handlung, sondern vielmehr die Personen treiben die Geschichte voran.
Viele Figuren des Romans konnte man entschlüsseln. Hinter Jacques Tüverlin und Johanna Krain verstecken sich Feuchtwanger selbst und seine Frau Marta. Kaspar Pröckl ist Feuchtwangers Freund Bertolt Brecht. Eine lustige kleine Anekdote hierzu: Feuchtwanger war davon überzeugt, dass niemand diese Verschlüsselung auflösen würde. Aber Brecht erkannte sich sofort wieder und diskutierte das intensiv mit dem Freund, der daraufhin einige Veränderungen vornahm. Josef Pfisterer ist Ludwig Ganghofer, Lothar Matthäi Ludwig Thoma, und Balthasar Hierl ist kein Geringerer als Karl Valentin. Sebastian von Grueber, der das "Museum der Technik" in München gründet, ist Oskar von Miller. Franz Flaucher ist der bayerische Ministerpräsident Gustav von Kahr
Und dann ist da noch Rupert Kutzner und seine politische Bewegung der "Wahrhaft Deutschen", die immer mächtiger wird und breite Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Kutzner wird von den bayerischen Konservativen unterstützt und steigt unaufhaltsam auf. Der Monteur, der sich selbst als politischen Schriftsteller bezeichnet, ist Hitler. Was der wohl von seiner Beschreibung im Roman gehalten hat – wenn er sie denn kannte? "Mit heller, manchmal leicht hysterischer Stimme deklamierte er; mühelos von langen, blassen Lippen flossen ihm die Worte; mit eindringlichen Gesten, wie er sie predigenden Landpfarrern abgesehen hatte, unterstützte er seine Rede. (…) Schwieg der Monteur Kutzner, so gaben die dünnen Lippen mit dem winzigen, dunklen Schnurrbart und das pomadig gescheitelte Haar über dem fast hinterkopflosen Schädel dem Gesicht eine maskenhafte Leere." Dass der Chauffeur Ratzenberger ein Fan Kutzners und seiner "einfachen, leicht fasslichen Ideen" ist, ist fast unvermeidlich. Er wie seine Stammtischkumpane haben nichts übrig für nüchterne Ideen, sehr wohl aber für Kutzners Programm, das "ihrem Bedürfnis nach Romantik schmeichelte. Überall sahen sie heimliche Bünde und Komplotte; wenn der Tarif der Autodroschken herabgesetzt wurde, erblickten sie in dieser Maßnahme die Hand der Freimaurer, der Juden, der Jesuiten."
Eine noch immer aktuelle Gesellschaftssatire
"Erfolg" ist der erste Roman von Feuchtwangers sogenannter Wartesaal-Trilogie, 1933 folgten "Die Geschwister Oppenheim" und 1940 "Exil". In allen drei Romanen geht es um das Erstarken der NS-Barbarei, die die Vernunft fast auslöscht. Immer wieder spricht Feuchtwanger von einer Politik, die nicht auf Fakten, sondern nur auf Gefühlen beruht. Kaum ein Autor wurde von den Nationalsozialisten so vehement gehasst wie Feuchtwanger, das liegt vor allem an diesem Roman. Feuchtwanger wurde sofort nach der Machtergreifung aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, seine Bücher wurden verbrannt und verboten.
Wir aber, als Nachgeborene, erfreuen uns an Feuchtwangers praller Sprache, seinen präzisen Beobachtungen, seinem klaren Blick auf die Geschehnisse und seiner Lust am Fabulieren. Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt – sogar in Bayern.
(Jutta Hamberger)+++
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch