Was wir lesen, was wir schauen (130)
Barbara Bišický-Ehrlich, Sag, dass es dir gut geht. Eine jüdische Familienchronik
© Barbara Bišický-Ehrlich
09.11.2025 / FULDA -
Das kann man niemandem erzählen
Das große Schweigen
Der 9. November 1938 ist in diesem Buch kein Datum aus den Geschichtsbüchern, sondern ein Bruch, der Generationen gleichzeitig trennt und verbindet. Wie ein unsichtbarer Faden zieht sich die Pogromnacht durch die Erzählung, sie erklärt Ängste, Verhaltensmuster, auch die Stille, die sich später über alles legt. Bišický-Ehrlich zeigt, wie historische Gewalt zu einem privaten Echo wird. So gesehen ist ihr Buch weniger eine Rückblende als eine Durchblende: Es erzählt, wie Vergangenheit in der Gegenwart pulsiert. Und macht klar, dass Vergangenheit nie abgeschlossen und ‚fertig‘ ist, sie schiebt sich immer wieder in unsere Gegenwart hinein.
Mit diesem Buch reiht sich Bišický-Ehrlich in die wachsende Zahl von Büchern der sogenannten dritten Generation ein – Autorinnen und Autoren, die das Schweigen ihrer Familien brechen, nicht um Zeugenschaft zu beanspruchen, sondern um Nachwirkungen zu verstehen. Zunächst für sich selbst und die eigene Familie, aber mindestens so sehr auch für die Mitwelt und die Menschen, für die 'Holocaust' nur ein Wort aus der Vergangenheit ist, mit dem man sich höchstens an Gedenktagen auseinandersetzt. Bišický-Ehrlich schreibt, anders als viele Autor:innen der dritten Generation, nicht dokumentarisch, sondern erzählerisch, ihr Ton ist zugleich nah und reflektiert. Sie erlaubt sich Humor, wo man vielleicht Ehrfurcht erwartet. Das ist mutig – und befreiend.
Ein sehr besonderes Buch
Barbara Bišický-Ehrlich schreibt mit Wärme, die aber nie zur Weichzeichnung wird. Sie erlaubt sich Humor, wo andere zum Pathos greifen – und genau darin liegt ihre Kraft. Ihr Blick auf die eigene Familiengeschichte ist zugleich zärtlich und unbestechlich. Auf das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern antwortet sie ohne Anklage und ohne jede Rührseligkeit. Diese Mischung aus Ernst und Ironie, aus Schmerz und Lebenslust schafft eine emotionale Balance, die man in der Literatur der dritten Generation selten so überzeugend findet.
Ihr Erzählstil ist dabei ökonomisch und pointiert. Sie verdichtet Jahrzehnte familiärer Erfahrung, ohne je ins Dozierende zu kippen. Sie schreibt klar, fast dokumentarisch, aber mit literarischem Gespür für Rhythmus und Zwischentöne. Die Wirkung ist leise und eindringlich.
"Sag, dass es dir gut geht" ist mehr als eine Familienchronik, es ist zugleich ein Gesprächsangebot. Bišický-Ehrlich öffnet Räume, in denen Erinnern nicht museal bleibt. Sie schreibt so, dass man weiterfragen möchte und über die eigenen Familiengeschichten nachzudenken beginnt. Darin liegt die eigentliche Besonderheit dieses Buches: Es verwandelt Erinnerung in Dialog – und macht aus Schweigen eine Sprache, die verstanden werden will.
Im Vergleich zu großen Stimmen der Überlebenden wie etwa Primo Levi, Ruth Klüger oder Anita Lasker-Wallfisch ergänzt Bišický-Ehrlichs Buch die Zeugnisse der ersten Generation um die Perspektive derer, die mit deren Schatten leben müssen. Es ist ein notwendiger Nachsatz – nicht, um das Grauen noch einmal zu beschwören, sondern um zu zeigen, was das Grauen mit den Nachgeborenen macht. Denn die Erfahrung von Vertreibung und Entwurzelung ist nie weit weg.
Man kann das als Statistik lesen
Der Nachhall der Pogromnacht ist bittere Gegenwart, sichtbar an Hauswänden, vor und in Schulen, im Netz und auf der Straße. Eine Gesellschaft mit klaren Werten und Zivilcourage hat es in der Hand, dagegen anzugehen, statt schweigend wegzusehen. "Sag, dass es dir gut geht" – der Satz, den Großmutter Helenka ihrer Enkelin mitgibt, war nie bloß ein Wunsch, sondern immer auch so etwas wie ein Schutzzauber, eine Überlebensformel aus einer Welt, in der Schweigen und Beschwichtigung Leben retten konnten. Für Helenka war er ein Talisman gegen die Gefahr von außen, für ihre Enkelin ist er das Erbe einer Angst, die weiterwandert, wenn man sie nicht ausspricht.
Barbara Bišický-Ehrlichs Buch zeigt, was passiert, wenn man den Satz auflöst und beginnt, darüber zu sprechen, warum es einem oft nicht gut geht. So wird Helenkas Schutzspruch zur Sprache der Befreiung – und Erinnerung wird Gegenwart.
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