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Barbara Bišický-Ehrlich, Sag, dass es dir gut geht. Eine jüdische Familienchronik

Vier Generationen treffen sich: Urgroßmutter Stepanka, Bruder Martin Bišický, Großmutter Helenka, die Eltern Zuzka und Honza und Barbara Bišický-Ehrlich (1985)
© Barbara Bišický-Ehrlich

09.11.2025 / FULDA - Das kann man niemandem erzählen



Am 09. November 1938 brannte in Deutschland nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft. Die Pogromnacht zerstörte Gewissheiten und löschte Leben aus. Sie hinterließ Risse durch Familienbiografien, die bis heute – 87 Jahre später – spürbar sind. In Barbara Bišický-Ehrlichs Buch "Sag, dass es dir gut geht" spürt man die Nachbeben. Und tatsächlich hallen der 09. November und seine Folgen in diesen Monaten des Jahres 2025 besonders laut nach.

Das große Schweigen

Barbara Bišický-Ehrlich wuchs als Kind tschechischer Emigranten in Frankfurt am Main auf. Sie hat einmal gesagt, es sei trotz aller Familientraumata eine glückliche und behütete Kindheit gewesen, in einer Familie, in der trotzdem und erst recht viel gelacht wurde. Ihr Buch ist weder klassische Holocaust-Erinnerung noch historischer Bericht. Ihre Familienchronik setzt beim Nachhall an: Sie erzählt, wie sich Gewalt, Vertreibung, Emigration und das große Schweigen in die Körper und Sätze der Nachkommen frisst – bis hinein in die dritte, die Enkelgeneration. Sie verdichtet eine Familiengeschichte zwischen Prag und Frankfurt zu einem kompakten, klar erzählten Erinnerungsraum.

Wer mit Überlebenden der Shoah aufgewachsen ist, kennt die beiden Extreme: das Schweigen, das schützt – und das Reden, das nie ganz ins Zentrum trifft. Bišický-Ehrlich beschreibt beides. Sie zeigt, wie sich die Sprachlosigkeit der Eltern und Großeltern in die Körper und Gedanken der Nachgeborenen einschreibt: in diffusen Ängsten, in einem ständigen Gefühl von Unsicherheit, in der unbewussten Bereitschaft, jederzeit fliehen zu müssen. Diese Traumata der dritten Generation sind nicht theoretisch, sie sind spürbar – und doch nie sentimental erzählt. Ihr Buch ist ein behutsamer Versuch, die Risse der Erinnerung sichtbar zu machen, ohne sie zuzukleistern.

Die "graue Wolke aus Schweigen und eisiger Kälte" ist dabei mehr als eine Metapher, sie ist ein allgemeines Erfahrungsbild dieser dritten Generation, heute beschrieben als transgenerationales Trauma. Viele Kinder und Enkel der Nachfahren spüren früh, dass irgendetwas nicht stimmt. Hingeworfene Satzfetzen, Codeworte, Andeutungen usw. führen zu ersten zögerlichen Nachfragen. Und die wiederum erzeugen ganz unterschiedliche Antworten. Bišický-Ehrlich formuliert eine Gegenrede, die zärtlich und präzise ist. Sie rekonstruiert, was die Familie trug, warum sie verstummte, wie sie überlebte, und wie sich die Nachkommen in diesem Echoraum ihr eigenes Leben bauen.

Der Riss, der bleibt

Der 9. November 1938 ist in diesem Buch kein Datum aus den Geschichtsbüchern, sondern ein Bruch, der Generationen gleichzeitig trennt und verbindet. Wie ein unsichtbarer Faden zieht sich die Pogromnacht durch die Erzählung, sie erklärt Ängste, Verhaltensmuster, auch die Stille, die sich später über alles legt. Bišický-Ehrlich zeigt, wie historische Gewalt zu einem privaten Echo wird. So gesehen ist ihr Buch weniger eine Rückblende als eine Durchblende: Es erzählt, wie Vergangenheit in der Gegenwart pulsiert. Und macht klar, dass Vergangenheit nie abgeschlossen und ‚fertig‘ ist, sie schiebt sich immer wieder in unsere Gegenwart hinein.

Mit diesem Buch reiht sich Bišický-Ehrlich in die wachsende Zahl von Büchern der sogenannten dritten Generation ein – Autorinnen und Autoren, die das Schweigen ihrer Familien brechen, nicht um Zeugenschaft zu beanspruchen, sondern um Nachwirkungen zu verstehen. Zunächst für sich selbst und die eigene Familie, aber mindestens so sehr auch für die Mitwelt und die Menschen, für die 'Holocaust' nur ein Wort aus der Vergangenheit ist, mit dem man sich höchstens an Gedenktagen auseinandersetzt. Bišický-Ehrlich schreibt, anders als viele Autor:innen der dritten Generation, nicht dokumentarisch, sondern erzählerisch, ihr Ton ist zugleich nah und reflektiert. Sie erlaubt sich Humor, wo man vielleicht Ehrfurcht erwartet. Das ist mutig – und befreiend.

Ein sehr besonderes Buch

Barbara Bišický-Ehrlich schreibt mit Wärme, die aber nie zur Weichzeichnung wird. Sie erlaubt sich Humor, wo andere zum Pathos greifen – und genau darin liegt ihre Kraft. Ihr Blick auf die eigene Familiengeschichte ist zugleich zärtlich und unbestechlich. Auf das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern antwortet sie ohne Anklage und ohne jede Rührseligkeit. Diese Mischung aus Ernst und Ironie, aus Schmerz und Lebenslust schafft eine emotionale Balance, die man in der Literatur der dritten Generation selten so überzeugend findet.

Bišický-Ehrlich betrachtet nicht die großen historischen Linien, sondern die kleinen, privaten Erschütterungen. Sie erzählt keine Heldengeschichte, sondern die ihrer geliebten Großmutter Helenka, die ihr Überleben dem eigenen unbändigen Überlebenswillen und mancherlei Zufällen verdankt. Dass die Pogromnacht nicht abstrakt irgendwann geschah, sondern sich ihre Nachwirkungen im Alltag fortsetzen, macht dieses Buch fast körperlich und sehr schmerzlich sichtbar. Dort ein Blick, die Panik vor Behördengängen, oder eine plötzliche Angst und unbewusste Reaktion. So wird Erinnerung gegenwärtig und spürbar.

Ihr Erzählstil ist dabei ökonomisch und pointiert. Sie verdichtet Jahrzehnte familiärer Erfahrung, ohne je ins Dozierende zu kippen. Sie schreibt klar, fast dokumentarisch, aber mit literarischem Gespür für Rhythmus und Zwischentöne. Die Wirkung ist leise und eindringlich.

Der Blick ins Jahr 2025

"Sag, dass es dir gut geht" ist mehr als eine Familienchronik, es ist zugleich ein Gesprächsangebot. Bišický-Ehrlich öffnet Räume, in denen Erinnern nicht museal bleibt. Sie schreibt so, dass man weiterfragen möchte und über die eigenen Familiengeschichten nachzudenken beginnt. Darin liegt die eigentliche Besonderheit dieses Buches: Es verwandelt Erinnerung in Dialog – und macht aus Schweigen eine Sprache, die verstanden werden will.

Im Vergleich zu großen Stimmen der Überlebenden wie etwa Primo Levi, Ruth Klüger oder Anita Lasker-Wallfisch ergänzt Bišický-Ehrlichs Buch die Zeugnisse der ersten Generation um die Perspektive derer, die mit deren Schatten leben müssen. Es ist ein notwendiger Nachsatz – nicht, um das Grauen noch einmal zu beschwören, sondern um zu zeigen, was das Grauen mit den Nachgeborenen macht. Denn die Erfahrung von Vertreibung und Entwurzelung ist nie weit weg.

Das zersetzende Gift des Antisemitismus in unserer Gesellschaft wirkt weiter – als wäre es eine unausrottbare Seuche. Die nackten Zahlen sprechen für sich – und gegen jedes Gefühl von Sicherheit. Für das Jahr 2024 verzeichnet die RIAS-Jahresbilanz 8.627 antisemitische Vorfälle – ein Plus von 77 Prozent gegenüber dem Jahr 2023. In der ersten Jahreshälfte 2025 meldete das BKA 1.946 einschlägige Straftaten – darunter Dutzende Gewalttaten und hunderte Fälle von Volksverhetzung.

Man kann das als Statistik lesen

Man kann, ja man sollte es aber besser lesen als Echo aus einer Zeit, die wir längst überwunden glaubten.
Der Nachhall der Pogromnacht ist bittere Gegenwart, sichtbar an Hauswänden, vor und in Schulen, im Netz und auf der Straße. Eine Gesellschaft mit klaren Werten und Zivilcourage hat es in der Hand, dagegen anzugehen, statt schweigend wegzusehen. "Sag, dass es dir gut geht" – der Satz, den Großmutter Helenka ihrer Enkelin mitgibt, war nie bloß ein Wunsch, sondern immer auch so etwas wie ein Schutzzauber, eine Überlebensformel aus einer Welt, in der Schweigen und Beschwichtigung Leben retten konnten. Für Helenka war er ein Talisman gegen die Gefahr von außen, für ihre Enkelin ist er das Erbe einer Angst, die weiterwandert, wenn man sie nicht ausspricht.

Barbara Bišický-Ehrlichs Buch zeigt, was passiert, wenn man den Satz auflöst und beginnt, darüber zu sprechen, warum es einem oft nicht gut geht. So wird Helenkas Schutzspruch zur Sprache der Befreiung – und Erinnerung wird Gegenwart.
(Jutta Hamberger)+++

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