Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
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05.02.2023 / REGION -
Es gibt Bücher, an denen man nicht vorbeikommt. "Reserve" gehört dazu. Noch nie hat ein Mitglied der britischen Königsfamilie so offen über sich und seine Familie gesprochen wie Harry. Das Buch ist unterhaltsam - und wird noch unterhaltsamer, wenn Sie parallel Paul Watzlawicks "Wie wirklich ist die Wirklichkeit" lesen. Zwecks Erprobung von Watzlawicks Theorie der vielen, nebeneinander existierenden Wirklichkeitsauffassungen am Prinzen-Buch.
Ambivalentes Interesse
"Reserve" erlaubt einen sehr privaten Blick in das Innere eines sehr prominenten Menschen. Es ist eine Art Sozialstudie aus dem Königshaus, und das ist in weiten Teilen erhellend. Dennoch weckt das Buch ambivalente Gefühle, denn Harry gibt ja nicht nur über sich selbst Dinge preis, sondern auch über Familienmitglieder – die er vorher sicherlich nicht nach ihrem Einverständnis gefragt hat.
Sinkende Absatzzahlen
Die Rede ist immer von einem Drei-Buch-Deal, es stellt sich die Frage, ob Harry mehr und anderes zu erzählen hat. Denn nochmal dieselbe Opfer-Story nur mit anderen Details kann zwar die Boulevardpresse ausschlachten, für ein Buch ist es zu wenig.
Sinkende Popularität
Das Paar hatte sich von diesem Buch auch einen Popularitätsschub erhofft, denn die Marke Sussex muss sich selbst finanzieren. Da ist es wenig hilfreich, dass das Echo auf "Reserve" überwiegend verheerend ist. Die Popularitätswerte beider sind in Großbritannien und den USA im Sinkflug. Auch Menschen, die Harry und seiner Frau wohlgesonnen sind, empfinden den Vertrauensbruch gegenüber seiner eigenen Familie als Überschreitung einer Grenze – so etwas tut man einfach nicht. Andere nervt, dass das Paar sich permanent als Opfer darstellt. Nuancen, erst recht andere Perspektiven sucht man in diesem Buch vergeblich. Die Weinerlichkeit ist enorm. Kein Wunder, dass der Prinz in einigen Medien als "man-baby" verspottet wird.
Das Interesse am Ehepaar Sussex hängt ausschließlich von der royalen Verbindung ab und gilt nicht den beiden. Die Bande zum Königshaus hat Harry mit diesem Buch aber mutwillig zerstört. Wie die von ihm ständig beschworene Versöhnung jemals gelingen soll, bleibt sein Geheimnis.
Die Opfer-Legende
Das Buch teilt sich in drei Teile – Kindheit, Militär, Meghan. Gerade die beiden ersten Teile bringen viel Interessantes, auch wenn Harry sich von der ersten Seite an als jemand darstellt, der als Zweitgeborener (Spare = Ersatzmann) systematisch benachteiligt und mit weniger Liebe versorgt worden sei. Das Setting im Buch ist konsequent einseitig: Harry und Meghan sind unschuldige Opfer, schuld sind immer die anderen – die königliche Familie und die britische Presse.
Nur, wenn die Royals so furchtbar sind, warum hat Meghan dann eingeheiratet? Wenn es so schlimm ist, im Rampenlicht zu stehen, wieso heiratet sie dann ausgerechnet einen britischen Royal? Und war Harry vor Meghan nicht ziemlich glücklich mit seiner Rolle im royalen Tableau – als Lieblingsenkel der Königin, als Erfinder der Invictus-Spiele, mit seinem caritativen Engagement, seine Liebe zu Afrika und seinem Humor? Wann genau wurde er denn zum Opfer? Ich kann mir nicht helfen – das Datum war wohl sein Hochzeitstag, der 19. Mai 2018. Denn es gibt ersichtlich einen Harry VOR und einen Harry NACH Meghan.
Dass Dianas Tod für ihn traumatisierend war, leuchtet ein. Aber – gilt das für William nicht in gleichem Maße? Der Tod im Pariser Tunnel wird zum Startpunkt für Harrys obsessive Beschäftigung mit der Presse. Für Dianas Tod macht er ausschließlich die Paparazzi verantwortlich, dass der Fahrer sturzbetrunken und Diana nicht angeschnallt war, ignoriert er. Wir wissen, dass die britischen Klatschblätter erbarmungslos sein können, wir verstehen, wie das nervt. Aber jeder Leser wird auch sagen: Das ist der Preis, wenn man mit einem goldenen Besteckkasten im Mund geboren wurde.
Wenn Harry über seine Zeit beim Militär spricht, spürt man echte Gefühle. Die Kameraden liegen ihm am Herzen, er ist stolz darauf, in der Armee und an der Front seinen Dienst zu leisten. Die Disziplin und klaren Strukturen dort waren gut für ihn, die Ausbildung an den anspruchsvollen militärischen Geräten hat er mit Freude gemeistert. Er konnte sich beim Militär als Teil eines größeren Ganzen empfinden, und er hatte dort Erfolgserlebnisse. Alle Sympathien zerstört er aber, weil er über Dinge spricht, die besser ungesagt bleiben. Ja, Soldaten töten im Krieg. Sie laufen aber nicht rum und binden das jedem ungefragt auf die Nase. Nicht nur Militärkreise sehen in diesen Enthüllungen ein Sicherheits-Risiko und eine Steilvorlage für die Propaganda der Taliban.
Meghan beschreibt Harry als perfekt und wunderschön – er, der Rothaarige, habe sie zum Erstaunen aller gekriegt. Meghan ist die schönste und klügste aller Frauen, die liebenswerteste und empathischste, und diejenige, die am meisten leiden muss. Und selbstverständlich ist sie die Unschuld in Person. Nirgends gibt es das kleinste Fitzelchen an Kritik – subito santo, Meghan! Die beiden anderen königlichen Frauen sind konsequenterweise in diesem Buch als Hexen besetzt. Camilla und Kate haben keine Chance. Wenn Sie gern "Rote Rosen" schauen, sind Sie mit diesem Teil des Buchs bestens bedient, es ist allerschönste Soap-Opera.
Viele nicht gelöste Widersprüche
Harrys Buch wirkt in weiten Teilen wie ein Therapietagebuch. Vielleicht war es gut für ihn, sich vieles von der Seele zu reden. Vielleicht ist dieser sehr amerikanische Psychotherapie-Striptease aber auch schädlich für ihn. Man kann seine Seele entblößen und im therapeutischen Kontext auch über die Familienbande sprechen. Die Familie dann aber öffentlich derart bloßzustellen, ist eine andere Nummer. Wie viel verbrannte Erde der Prinz hinterlassen hat, wird sich erst noch herausstellen.
Den Widerspruch, dass Harry und seine Frau Privatheit einfordern und gleichzeitig unzählige Interviews geben (das mit Oprah Winfrey war der Startschuss), eine Netflix-Doku über sich machen und Harry intimste Details in seinem Buch ausplaudert, wird weder angesprochen noch aufgelöst. Er habe die Wahrheit erzählen wollen, nachdem immer nur über ihn berichtet worden sei, nennt Harry als Motiv. Es ist aber nur seine Version der Wahrheit. Womit ich den Bogen zurückschlage zu Paul Watzlawick – und zu Queen Elizabeth. "Some recollections may vary" – Erinnerungen können verschieden sein, hatte die altersweise Königin nach dem berüchtigten Oprah-Interview vom April 2021 gesagt. Ach, hätte ihr Enkelsohn ihr doch besser zugehört.
Weiterführende Links
Die offizielle Website des Ehepaars Sussex: https://sussexroyal.com/
Die Website von Archwell, der Stiftung des Paares: https://archewell.com/
Website der englischen Royals: https://www.royal.uk/
Jimmy Kimmel über "Spare" und Prinz Harry: https://www.youtube.com/watch?v=mtb6EGZRXGo
(Jutta Hamberger)+++
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