Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
© Visit Sweden
23.10.2022 / REGION -
Als ich die schwedische Autorin Emelie Schepp für mich entdeckte, habe ich mich aus ganz vielen Gründen gefreut. Ich liebe skandinavische Krimis. Die Autorin, die viele Jahre in einer Eventagentur arbeitete, wollte keiner veröffentlichen, als sie ihren ersten Roman "Nebelkind" fertig hatte. Und dann wurde Emelie Schepp zu einer von diesen wunderbaren Erfolgsgeschichten, an denen die Buchbranche so reich ist.
Von Nebelkind bis Rachezeit
"Nebelkind" veröffentliche Schepp 2015 zunächst im Selbstverlag. Die 4.999 Exemplare waren nach 4 Wochen verkauft, und auf einmal standen die schwedischen Verlage Schlange bei Schepp. Heute ist die Serie um die Staatsanwältin Jana Berzelius auf 7 Bände angewachsen, wurde in über 30 Länder lizenziert und hat weltweit über 2,5 Millionen Exemplare verkauft. 2016, 2017 und 2018 wurde Schepp mit dem renommierten Publikumspreis CrimeTime Reader’s Choice Award ausgezeichnet und damit dreimal hintereinander zur besten Spannungsautorin Schwedens gekürt.
Die Kindersoldatin
Jana und Danilo werden zu skrupellosen Killern ausgebildet, die ihre beträchtlichen Fähigkeiten für ihren Auftraggeber, aber auch zum Schutz des eigenen Lebens einsetzen. Beide Kinder tragen, quasi als Stammes-Tattoo, den Namen einer mythologischen Todesgottheit im Nacken und sind so für alle Zeiten gezeichnet. So erklärt sich auch der schwedische Originaltitel, "Märkta för livet" – gezeichnet fürs Leben. Ker – die Göttin des gewaltsamen Todes ist Janas Tattoo – sie hasst es und alles, wofür es steht.
Die Staatsanwältin
Bei einem Auftrag wird Jana geschnappt. Statt im Kinderheim oder einer staatlichen Aufsichtsbehörde landet sie bei Rechtsanwalt Berzelius, reich, angesehen, skrupellos. Das Ehepaar hat keine eigenen Kinder und freut sich, eine Tochter großziehen zu können. Die Mutter hat keine Ahnung von Janas Vergangenheit, der Vater hingegen schon.
Auch Danilo überlebt, aber sein Lebensweg ist ganz anders – er arbeitet sich in der Verbrecher-Hierarchie des Landes hoch. "Es hatte eine Zeit gegeben, als Danilo und sie wie Geschwister gewesen und ihren Alltag geteilt hatten. Doch das lag weit zurück, in ihrer Kindheit. Nun teilten sie nur noch dieselbe blutige Vergangenheit, sonst nichts. Er trug eine Hautritzung im Nacken, und auch sie hatte eine, die sie ständig an ihre dunkle Kindheit erinnerte. Danilo war der Einzige, der wusste, woher Jana kam und warum sie so war, wie sie war."
Jana hat ihre frühen Jahre erfolgreich verdrängt, wird aber immer wieder von Alpträumen und Erinnerungsfetzen heimgesucht. Vieles davon hält sie in Tagebüchern fest. Nach außen wirkt Jana kalt und unnahbar. Ein hochintelligenter Eisberg, nach Perfektion strebend, von der äußeren Erscheinung bis zu ihrem beruflichen Handeln. Das stößt viele ab und ist von ihr auch so gewollt. Die selbstauferlegte Isolation hilft ihr, sich und ihr Leben zusammenzuhalten.
Die Nebenfiguren
Die Dynamik zwischen Jana und Danilo ist einer der Treiber der Handlung, besonders unterhaltsam aber sind die von Schepp liebevoll gezeichneten Nebenfiguren und ihre Probleme. Zum Ermittler-Team gehört Kriminalkommissar Henrik Levin, der gerade zum dritten Mal Vater geworden ist und die Anforderungen seines Berufs und seiner Familie unter einen Hut zu bekommen versucht. Wachtmeisterin Mia Bolander stammt aus einfachen Verhältnissen und hat nie genug Geld, dafür aber immer sehr viele Schulden und sucht auf allabendlichen Kneipentouren den Mann fürs Leben. Kriminalhauptkommissar Gunnar Öhrn und die Kriminaltechnikerin Anneli Lindgren haben ein gemeinsames Kind und die Art von on/off-Beziehung, die für ständige Friktion sorgt. Kriminaltechniker Ola Söderström ist ein klassischer Nerd und findet auch die abseitigsten Informationen in den Tiefen des Netzes. Und dann ist da noch Staatsanwalt Per Åström, der Jana anbetet. Es sind alles Menschen, die ihren Job mögen und sich engagieren, aber Fehler passieren und nicht immer treffen sie die richtigen Entscheidungen. Das macht sie nahbar und echt – und ist der nötige Kontrast zur Janas Perfektion.
Ein Ritt auf der Klinge
Schepp verbindet zwei Handlungsstränge und damit zwei typische Crime Story-Elemente: Der Roman ist ein Action Thriller in all den Kapiteln, in denen es um Jana und ihr enigmatisches Wesen geht, und ein klassisches Whodunnit in den Kapiteln, in denen es um die Polizeiarbeit geht. Dass Jana früh gezwungen ist, mit den Kollegen eine Art Versteckspiel zu treiben, erhöht die Spannung. Sie bleibt ein Rätsel – anderen sowieso, aber eben auch sich selbst. Immer wieder steht sie im Konflikt, den Fall aufklären zu müssen, sich selbst und ihre dunkle Seite aber verbergen zu müssen.
Für jeden Roman wählt Emelie Schepp einen bedrohlich aktuellen Ausgangspunkt und hält der schwedischen Gesellschaft so einen Spiegel vor. Einwanderung – legal wie illegal, und ihre Konsequenzen. Am Rande der Gesellschaft stehen – als Schwuler oder Transmensch, und mit diesen Verletzungen klarkommen. Die Aussichtslosigkeit, sich aus bestimmten Milieus heraus ein gutes Leben aufzubauen – was durch Alkohol, Drogen und Gewalt kompensiert wird. Die Tatsache, dass manche Stadtviertel von der Polizei gemieden werden, weil man sie längst Banden überlassen hat. Der Verstärkereffekt von sozialen Medien. Der brutale Stress, wenn man im Rettungsdienst arbeitet. Die krassen Einkommensunterschiede zwischen denen oben und denen unten. Die Tatsache, dass Familie oft eben kein Ort der Geborgenheit, sondern einer des Grauens ist.
Die Charakterisierungen der Figuren sind vielschichtig, es sind ihre Reaktionen auf die Geschehnisse, die die Handlung vorantreiben. Dadurch entstehen Intensität und Drive. "Nebelkind" ist die Art von Buch, das einem eiskalte Schauer den Rücken hinunterjagt und bei dem man sich dabei erwischt, wie man kontrolliert, ob man auch wirklich alle Fenster und Türen geschlossen hat. Und doch weiß man in der Tiefe seines Herzens – vor dem Bösen gibt es kein Entkommen.
Extra: Die richtige Reihenfolge der Berzelius-Krimis
1) Nebelkind / "Märkta för livet" (Gezeichnet fürs Leben)
2) Weißer Schlaf / "Vita spår" (Weiße Spur)
3) Engelsschuld / "Prio Ett" "(Das Wichtigste)
4) Im Namen des Sohnes / "Pappas pojke" (Papas Liebling)
5) Leichengrund / "Broder Jakob" (Bruder Jakob)
6) Rachezeit / "Nio liv" (Neun Leben)
9)"Björnen sover" (Der Bär schläft – noch nicht auf Deutsch erschienen)
Weiterführende Links
In Norrköping kann man Jana-Berzelius-Touren buchen – das Interesse ist groß: https://www.kultursidan.nu/?p=41529
Facebook-Seite der Autorin: https://www.facebook.com/profile.php?id=100044382463262
Website Autorin: https://www.emelieschepp.com
Rezension: https://www.nyjournalofbooks.com/book-review/marked-life
(Jutta Hamberger)+++
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