Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Foto: Jutta Hamberger
07.04.2024 / FULDA -
Ostern liegt hinter und Pfingsten vor uns, Frühlingslaune und Urlaubsgefühle sind ganz nah. Viele schmieden schon Pläne für den Urlaub. Mal geht’s an immerwährende Lieblingsziele, mal bewusst weit weg. Niemandem kommt dabei der Gedanke, dass er oder sie an einem bestimmten Urlaubsziel nicht erwünscht sein könnte.
Schutzräume und Rückzugsorte
Als häufige Nord- und Ostsee-Urlauberin hat es mich besonders interessiert, wie die Urlaubsorte dort in der NS-Zeit mit jüdischen Deutschen umgingen. Dazu ist ein ebenso spannendes wie beklemmendes Buch erschienen, Kristine von Sodens "Ob die Möwen manchmal an mich denken?" Es befasst sich mit der Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee. Antisemitismus war in fast allen Badeorten weit verbreitet. Kristine von Soden zieht Archivmaterial, historische Quellen, Fotografien und Tagebuchnotizen heran.
Parole ‚Judenrein!‘
Bad Leba in Pommern (heute Kaschubien in Polen) wollte das ‚Borkum der Ostseeküste‘ sein, ein entsprechendes antisemitisches Machwerk macht das überdeutlich:
"Schönes Bad im Pommernlande,
Heil Dir, dass du deutsch willst sein,
‚unsre Lait‘ und koschre Räte,
sie begaunern andre Städte,
aber du bist judenrein.
Nicht geduldet soll der Cohn sein,
Glück und Wohlstand wird dein Lohn sein,
blühen wirst du und gedeih’n.
Lebst du nicht von Juden Gnaden,
werden gern dort Deutsche baden,
Leba bleibe judenrein!"
Ähnlich widerlich ist das um 1922 entstandene Zinnowitz-Lied (eine Paraphrase des Borkum-Lieds), das auf einer Postkarte als Andenken verkauft wurde. Die konnte man an gleichgesinnte Freunde schicken, oder täglich mitsingen, wenn die Kurkapelle das Lied zum Abschluss aller Konzerte anstimmte.
Zur jüdischen Badeprominenz zählen Else Lasker-Schüler, George Grosz, Hannah Ahrend, Mascha Kaléko, Dora Diamant, Josef Roth oder Victor Klemperer. Else Lasker-Schüler urlaubte am liebsten in Kolberg, der Heimatstadt des Sexualforschers Magnus Hirschfeld, mit dem sie befreundet war. Das Familienhaus der Hirschbergs war zur "Pension Villa Sommerheim" (später "Villa Agnes") umfunktioniert worden, hier mietete Lasker-Schüler sich erstmals 1915 ein. Nirgends war die Dichterin glücklicher, Kolberg und sie – das war Liebe auf den ersten Blick. Über das Meer schreibt sie 1930: "Das Meer ist die weite strömende, der Welt ‚gebliebene‘ Seele. Das Meer ist von dieser Welt. Aber der Geist Gottes schwebt über seine Wasser. Wie tauchen ein in das heilige Element und erlösen uns von aller Erdenschwere."
1904 reisen Viktor Klemperer und Eva Schlemmer erstmals an die Ostsee. Sie geben sich als Ehepaar aus – das sind sie allerdings erst 1906. Sie fühlen sich sofort wohl und kommen bis 1926 fast jährlich wieder. Aber auch sie berichten bereits in den 20er Jahren von antisemitischen Hetzereien und dem einsetzenden Stimmungswandel.
Vertrieben an der Ostsee, ermordet im Vernichtungslager
Die Autorin erspart uns nicht, die Verbindungslinie vom Antisemitismus der Seebäder zur Vernichtung der Juden in den Todesfabriken zu ziehen. Aus dem Jahr 1938 berichtet sie aus Prerow im Fischland, dass im Badeprospekt ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass Juden unerwünscht seien. Das "Darßer Heimatbuch" berichtet von der Beschwerde eines Magdeburger Fabrikanten, der sich durch jüdische Kinder gestört fühlte in seinem Strandvergnügen und sich wundert, dass die Prerower Bevölkerung in Rassefragen offenbar zu wenig geschult sei, um "diese typischen Judenkinder" nicht sofort als solche zu erkennen. Der Kurdirektor möge sich um die Entfernung kümmern. Dieser tut das schleunigst und verweist die Kinder und ihre Erzieherin Gertrud Heßlein, die ihnen den Urlaub ermöglicht hatte, des Ortes. Die drei Kinder sind Irma (14), Mirjam (12) und Sonja Sonnenschein (9 Jahre) – Vollwaisen. Im November 1942 werden die drei Mädchen interniert und 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet werden.
Der Antisemitismus der Bäder ist ein Spiegelbild der antijüdischen Einstellung im deutschen Alltag. Die Vertreibung der Juden aus den Seebädern geschah zunächst überwiegend "von unten", also nicht auf Anordnung. Sie missachtete dabei jegliche Rechtsnormen, das in der Weimarer Verfassung garantierte Freizügigkeitsrecht interessierte hier keinen. Nach 1933 beschleunigt sich der Prozess durch die antisemitischen Gesetze der Nationalsozialisten.
Kristine von Soden: "Rund 60 Jahre reisten jüdische Badegäste zur Sommerfrische an die Ostsee. Niemand kennt ihre Zahl, weiß, wie viele es in den einzelnen Seebädern je waren. Ihre Spuren sind verweht, verwischt." Dieses hervorragend recherchierte und elegant geschriebene Buch macht klar: Die Vertreibung und Vernichtung der Juden war ein menschlicher, gesellschaftlicher und kultureller Verlust, an dem wir bis heute schmerzlich leiden. (Jutta Hamberger)+++
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