Was wir lesen, was wir schauen (110)

Ken Follett, Die Nadel - Spione wie wir

Sturm zieht über der Nordsee auf
© Wikipedia / Magnus Manske CC BY 1.0

05.01.2025 / FULDA - Dass Ken Follett ein erfolgreicher Autor ist, wissen wir. Dass er zu den erfolgreichsten Autoren weltweit gehört, können wir erahnen – seine 37 Romane haben weltweit 195 Millionen Exemplare verkauft. Bekannt ist er heute vor allem für seine historischen Romane, aber seinen Durchbruch schaffte Follett mit dem Thriller "Die Nadel".

Internationaler Durchbruch



Das Buch erschien 1978 und brachte ihm 1979 den renommierten Edgar Award ein, schon 1981 wurde der Roman verfilmt. Bis heute zählt dieser Spionage-Thriller zu Folletts beliebtesten Büchern – ein guter Grund, ihn erneut zu lesen. Wenn Sie das Wort "Kanon" verwenden wollen: Dieser Roman gehört unbedingt zum Kanon der Weltkriegs-Thriller. Follett legte mit der "Nadel" den Grundstein zu seiner Thriller-Karriere. Er selbst nennt sich "Master Storyteller", wenn man Lust hat, ihm über die Schulter zu schauen und von ihm zu lernen, kann man seinen Kurs "Writing Bestseller Fiction" bei BBC Maestro besuchen. Vielleicht gelingt einem nach den 22 Lektionen dann ja auch so ein Wurf?

Follett ist in mancher Beziehung ein Unikat in der Buchbranche. Es gibt wenige Autoren, die ihrem Verlag so treu sind und waren wie er – 29 Titel erschienen bisher bei Bastei Lübbe. Und das dürfen Sie glauben: Es gab viele Versuche, Follett mit einem großen Scheck von Bastei Lübbe wegzulocken! Sein nächstes Buch wird im Herbst 2025 erscheinen. Follett macht auch Musik – mit seiner Blues-Band Damn Right. Besucher der Frankfurter Buchmesse bzw. des Abendprogramms nach Schließung der Messehallen konnten sich von seinen Talenten bereits überzeugen.

Follett ist auf die vorderen Ränge der Bestsellerlisten abonniert, egal ob es um seine Thriller oder seine historischen Romane geht. Mir scheint, er hat dabei eine besondere Zuneigung für seine Bösewichter, die immer deutlich charismatischer sind als die vermeintlich "Guten". Und: Er schätzt starke Frauenfiguren, die sich gegen die Widrigkeiten ihrer Zeit durchsetzen. Beides kann man auch in "Die Nadel" sehr schön sehen: der kaltblütige Spion Faber einerseits, die einsame und leidenschaftliche Lucy Rose andererseits.

Operation Fortitude


Der "Nadel" liegt ein historisches Ereignis zugrunde. 1944 hatte Nazi-Deutschland den Krieg längst verloren, die Alliierten bereiteten mit der "Operation Overlord" die Invasion vor. Die Frage war nur: Wo würden die Truppen landen? Die Alliierten versuchen alles, ihre wahren Pläne zu verschleiern. An der schmalsten Stelle des Ärmelkanals wird eine Potemkin’sche Kriegskulisse aufgebaut: Gummipanzer, Kulissen-Militärbaracken, Flugzeuge aus Pappmaché – eine Geisterarmee. Für feindliche Flugzeuge aber wirkt alles echt. Die deutsche Abwehr fällt auf den Plan herein und glaubt, was sie glauben soll: Die Invasion wird über Calais erfolgen. Die Täuschung erhält den Namen "Operation Fortitude". Eine fiktive amerikanische Heeres-Gruppe namens FUSAG (First United States Army Group), deren vorgeblicher Kommandeur General Patton war. Gefälschte Funksprüche, Meldungen über Sportereignisse und Hochzeiten der erfundenen Soldaten wurden abgesetzt.

Und: der britische Geheimdienst MI5 entwickelte das sogenannte Double-Cross-System, um deutsche Agenten ausfindig zu machen. Diese wurden gefangen genommen, ‚umgedreht‘ und der Aktion "Fortitude" zur Verfügung gestellt. Die Agenten hatten die Wahl zwischen Mitmachen oder Hinrichtung, und entschieden sich in der Regel fürs Doppelagententum. Sie lieferten Falschmeldungen an die deutsche Abwehr. Es funktionierte prächtig – der MI5 sammelte viele ausländische Spione ein, die fortan die deutsche Abwehr fütterten.

Minutiöse Aufklärungsarbeit

Einen aber bekommen sie nicht, lange wissen sie nicht einmal, dass es ihn gibt: Heinrich Rudolf Hans von Müller-Guder oder Hendrik Faber, genannt "Die Nadel", ein enger Freund von Wilhelm Canaris. Und der einzige Agent, dem auch Hitler vertraut. Faber ist bereits vor Kriegsbeginn nach England eingeschleust worden und hat sich dort zwei Identitäten aufgebaut. Da er Profi ist, ungeheuer vorsichtig und umsichtig agiert, ist es ihm bislang gelungen, unentdeckt zu bleiben. Durch das Double-Cross-System aber kommt der MI5 ihm schließlich auf die Spur.

Faber gelingt zunächst das Unmögliche: er entdeckt die Täuschung des Unternehmens Fortidude. Und ihm ist sofort klar, dass diese Entdeckung kriegsentscheidend, zumindest aber kriegsverzögernd sein könnte. Nur – wie soll er die Informationen und die Beweisbilder nach Deutschland bekommen? Nun beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Faber und dem MI5 in Gestalt von Percival Godliman und Frederick Bloggs – quer durch England bis an die schottische Küste, dort erwartet ihn ein deutsches U-Boot.

Follett zeigt minutiös die aufreibende Detektivarbeit, macht klar, wie oft ein wichtiger Hinweis nur durch Zufall gegeben wird oder die richtige Frage eher beiläufig gestellt wird. Das ist sehr spannend zu lesen. Follett gelingt auch das Kunststück, dass wir uns sowohl mit dem Ermittler-Team, das anfangs gegen ein gesichtsloses Phantom kämpft, als auch mit dem Spion Faber identifizieren. Doch, wir wollen, dass ihm die Flucht gelingt – und wir wollen es gleichzeitig auch nicht, weil wir verstehen, was das für den weiteren Verlauf des Krieges bedeuten würde.

Faber zieht bei seiner Flucht eine wahre Blutspur, denn er kann die nicht am Leben lassen, die ihn gesehen haben. Dafür nutzt er ein Stilett – daher kommt auch sein Tarnname. Lange ist Faber seinen Verfolgern immer den entscheidenden Schritt voraus. Und das wäre wohl auch bis zum Ende so geblieben, wenn ihm nicht die Liebe dazwischengefunkt hätte. Das deutsche U-Boot erreicht er wegen eines furchtbaren Sturms nicht, sein Boot kentert, er gelangt mit letzter Kraft auf die kleine Insel Storm Island, auf der sehr viele Schafe und gerade einmal vier Menschen leben: Das Ehepaar Lucy und David Rose mit ihrem Sohn, und Schafhirte Thomas. Die Ehe der Roses ist lieblos, bei einem Autounfall am Hochzeitstag wurde David so schwer verletzt, dass er seither im Rollstuhl sitzt. Er hadert mit seinem Schicksal und will nicht glauben, dass seine Frau ihn dennoch liebt. Die sehnt sich nach Liebe, und auch – sie hat schließlich "Lady Chatterley" gelesen – nach Sex. Mit anderen Worten: Es ist alles angerichtet für eine heiße Liebesgeschichte zwischen Lucy und Faber.

Sie kennen den Ausgang des Zweiten Weltkriegs, Sie wissen um den D-Day – Ihnen ist klar, Henry Faber wird es nicht schaffen. Aber wie und warum ihm das letzten Endes nicht gelingt, das ist so spannend zu lesen, dass es einfach nur Freude macht.

Weiterführende Links

Follett mit seiner Band "Damn Right", Exeter University 19.07.2014: https://www.youtube.com/watch?v=5-3VOnqvGzY

Writing Bestseller Fiction mit Ken Follett, https://www.bbcmaestro.com/courses/ken-follett/writing-bestselling-fiction

(Jutta Hamberger)+++

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