Was wir lesen, was wir schauen (93)

Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause

Das ist der zweibändige Erstdruck von Thomas Manns „Buddenbrooks“ von 1901
© Wikipedia / H.-P. Haack

19.05.2024 / FULDA - 1929 erhält Thomas Mann für die "Buddenbrooks" (erschienen 1901) den Literaturnobelpreis. Ganz explizit für diesen Roman, obwohl Thomas Mann in den Jahrzehnten seither als Schriftsteller nicht untätig gewesen war.

Erhellende und entlarvende Sitzungsprotokolle

Die Stockholmer Jury begründet ihre Entscheidung damit, dass das Werk "im Lauf der Jahre eine immer mehr sich festigende Anerkennung als ein klassisches Werk der zeitgenössischen Literatur gewonnen hat." Wenn man bedenkt, welchen Ärger der Roman bei Erscheinen auslöste, ist das eine respektable Karriere. Manns Verleger fand das Manuskript zu lang und verlangte Kürzungen. Thomas Mann weigerte sich. Nach einigen Diskussionen gab Samuel Fischer nach und publizierte den Roman – zunächst in zwei Bänden. Das tut dem Absatz nicht gut. Und in Lübeck ist man wechselseitig fasziniert oder empört, denn viele erkennen sich in diesem Buch wieder, nicht alle sind über ihre literarische Verarbeitung erfreut. Thomas Mann gilt fortan als Nestbeschmutzer. In der Stadt kursieren Schlüssellisten zum Roman. Der Erfolg der "Buddenbrooks" beginnt, als der Fischer Verlag endlich eine einbändige Ausgabe herausbringt.

Aber warum legt sich das Stockholmer Komitee auf diesen Roman fest, warum ehrten sie nicht das Gesamtwerk? Des Rätsels Lösung: Die Vergabe war eine Absage an den "Zauberberg". Der nämlich war dem Komitee zu modern. Woher man das weiß? Aus den Sitzungsprotokollen, denn die Stockholmer Akademie öffnete Ende der 1980er Jahre ihr Archiv. Die Lektüre ist sehr erhellend, denn vielleicht geht es Ihnen wie mir und Sie fragen sich immer mal wieder: "WTF? Wieso denn die oder der?" Man sieht an vielen Entscheidungen sehr schön, wie fehlbar Juroren sein können – auch wenn sie im Falle Thomas Manns zwar den richtigen Autor, aber eben mit dem falschen Werk herausgegriffen haben. Denn so fantastisch die "Buddenbrooks" auch sind, der "Zauberberg" ist ein Meilenstein der deutschen Literatur.

Der Zauberberg – viel zu modern!


1924 war Thomas Mann das erste Mal für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch, vorgeschlagen hatte ihn Gerhard Hauptmann (der seinerseits 1912 gewonnen hatte). Aber die Jury konnte sich nicht einigen und kürte schließlich den Polen Wladyslaw Reymont. Auch, weil man erst mal abwarten wollte, was Thomas Mann denn noch so produzieren werde. 1928 wurde Thomas Mann erneut nominiert – der "Zauberberg" lag nun vor. Aber oh weh, seine Komplexität und Tiefe erschlossen sich dem Komitee nicht, das sei zwar ein "in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Werk mit bedeutendem Inhalt, aber unter ästhetischen Gesichtspunkten zu weitschweifig und zu schwerfällig". Aha. Nun war Thomas Mann damals einer der ganz Großen der Literatur, an ihm vorbei kam man nicht. Eigentlich. Den Juroren war es egal, sie machten genau das, ausgezeichnet wurden Henri Bergson (1927) und Sigrid Undset (1928).

1929 stand Thomas Mann wieder auf der Vorschlagsliste. Der Vorsitzende des Komitees, Per Hallström, der Mann schon 1924 hatte auszeichnen wollen, griff argumentativ in die Trickkiste und erklärte seinen Kollegen: "In seinem menschlichen Gehalt, wenn auch nicht in der Großartigkeit des Stils, nähert er sich dem klassischen Realismus Tolstois an und behauptet dabei seine Eigenständigkeit schon durch die Unterschiede in Milieu und Kultur – bei dem Deutschen ist das Bürgertum, was bei dem Russen der Adel war." ." Der menschliche Gehalt und das Bürgertum - das  war dann endlich der Ritterschlag.

Grandios scheitern

Thomas Mann war Anfang 20, als er mit dem Schreiben begann und die eigene Familiengeschichte zu einem Roman verarbeitete, der es in sich hatte. Die "Buddenbrooks" sind schulische Pflichtlektüre, jedem, der an Thomas Mann denkt, fällt mit Sicherheit zuerst dieser Roman ein. Ja, wir haben einen Schlüsselroman vor uns, aber viel spannender ist ja, was Thomas Mann aus der vorgefundenen Wirklichkeit macht und wie er sie verfremdet. Fast nichts ist so, wie es scheint, und dass wir hier eine Geschichte des Scheiterns lesen, ist schon auf den ersten Seiten spürbar.

Die Buddenbrooks scheitern – ökonomisch, menschlich, seelisch. Thomas Buddenbrook, der Erbe, empfindet die Familientradition nur als Last und wird ihr letztlich nicht gewachsen sein. Sein Bruder Christian ist ein Bohemien und Taugenichts. Seine Schwester Tony ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, gutmütig und mitfühlend zwar, aber auch mutlos, was den eigenen Lebensentwurf angeht. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie den Mann geehelicht hätte, den sie liebte? Mir haben sich die Szenen zwischen ihr und Morten Schwarzkopf in Travemünde für immer eingeprägt: wenn beide "auf den Steinen" sitzen, was zum Synonym für das Leben wird, das Tony gern führen würde, aber eben nicht tut. Stattdessen heiratet Tony zweimal, und wird zweimal unglücklich mit ihren Ehemännern. Auch die Scheidungen sind Geschichten des Scheiterns. Thomas schließlich heiratet die Musikerin Gerda, die vieles ist, aber ganz gewiss keine Matriarchin, und die sich mit der Geburt von Söhnchen Hanno total verausgabt. Über dessen Leben liegen vom ersten Tag an die Todesschatten.

Sprachliche und gestalterische Wucht

Mich fasziniert an diesem Roman Thomas Manns Sprachkunst. Ihm gelingt es, mit wenigen Strichen Charaktere sprachlich zu zeichnen – und sie zu überbordend lebendigen Figuren zu gestalten. Manche dieser Figuren begegnen einem nur einmal, andere den ganzen Roman hindurch. Manchen fühlt man sich besonders nah, andere möchte man aus ihrer Lethargie oder Lebensuntüchtigkeit am liebsten herausschütteln.

Schon im Einweihungsfest des neuen Buddenbrook-Hauses in der Mengstraße ganz zu Beginn des Romans zeigt sich Manns ganze erzählerische Kunst, wenn er aus Familiengeschichte, Zeitgeschichte, Tagespolitik, Geschäfte, die Geschichte des Hauses, Psychologie, das gute und üppige Essen, die verschiedenen Generationen, die Tischgespräche und natürlich Gratulationen und Toasts ein vielschichtiges Panorama baut. Es ist ein Hochgenuss, das zu lesen, auch, weil hinter jeder Vordergründigkeit eine abgrundtiefe Hintergründigkeit steckt.

Ich mag die Konsequenz dieses Romans, der uns ein ehernes Gesetz vor Augen führt: Sich dem Wandel entgegenzustemmen führt in den Niedergang. Wer Zukunft sichern will, muss Neues mit Altem verbinden. Kraftvoller und lesenswerter als die Buddenbrooks ist noch keine Familie gescheitert.
(Jutta Hamberger)+++

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