Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
© Verlag
12.06.2022 / REGION -
Kennen Sie das auch – Tage, an denen Sie sich gar nicht mögen? Irgendetwas ist schief gelaufen, man fühlt sich schlecht, klein und minderwertig. Gar kein schönes Gefühl. Aber man kriegt es in Griff, wenn es wieder läuft und man stolz auf sich sein kann. Stellen Sie sich vor, wie es sich anfühlt, wenn nicht sie selbst sich ablehnen, sondern andere. Weil sie denken, Sie wären zu – ja was? – zu klein, zu dick, zu krank, zu ausländisch, zu dunkelhäutig. Damit umzugehen fällt schwer – erst recht, wenn man ein Kind ist.
Jede Ausgrenzung verstört
Theoretisch wissen wir das alle: auch in unserem Land gibt es viele Menschen, die genau diese Erfahrung dauernd machen. Nicht, weil sie etwas falsch machen oder nicht können, sondern einzig aufgrund ihrer Hautfarbe. Im November 2020 erhielt Olivia Wenzel den (halben) Fuldaer Buchpreis für "1000 Serpentinen Angst" – darin thematisierte sie Rassismus, wie sie ihn ein Leben lang erlebt hatte. Wenn Sie das Buch noch nicht kennen: heftigste Leseempfehlung, es ist großartig – die Rezension dazu finden Sie hier: https://osthessen-news.de/n11639294/dieses-buch-haut-einen-um-olivia-wenzel-1000-serpentinen-angst.html
Spannenderweise sind es oft Bücher über Mädchen, die das schaffen – und das hat natürlich gesellschaftliche Gründe. Mädchen und Frauen bekommen von Geburt an mehr Signale, wie sie sein sollen und wie nicht, was sie tun sollen und was nicht, was sich für sie schickt und was nicht als Jungen. Genau deswegen gibt es solche Ermächtigungsbücher. "Pippi Langstrumpf" gehört unbedingt dazu, das starke Mädchen, das sich die Welt so macht, wie sie ihr gefällt, auch "Ronja Räubertochter" wäre zu nennen – wie eigentlich das gesamte Astrid-Lindgren-Universum. "Sulwe" hat das Zeug dazu, ein zu werden, das Kinder bestärkt, so zu sein, wie sie sind. Und das auf unnachahmlich beiläufige Art und Weise zeigt, dass Worte die schärfsten Waffen sind, die wir haben – auch schon als Kinder.
Sulwe ist ein kleines Mädchen mit "mitternachtsfarbener" Haut. Also sehr, sehr dunkel. Dunkler als alle in ihrer Familie. Das wäre an sich kein Problem, wenn andere es nicht dauernd dazu machen würden. Sie nennen sie Finsterella, Nachtgespenst und Schwärzeli – Worte, die tief ins Herz treffen und verletzen. So sehr, dass Sulwe alles tut, um endlich auch eine helle Haut zu bekommen. Abradieren funktioniert nicht, wenn sie Mamas Schminke nimmt, wird Mama böse, und ganz viele weiße Sachen essen macht nur Bauchweh. Nicht mal die flehentlichen Gebete, die Sulwe nachts an den lieben Gott schickt, machen ihre Haut heller.
Immer trauriger wird Sulwe, so sehr, dass ihre Mama sich Sorgen um sie macht. Sulwe erzählt ihr, was sie bedrückt und hört die drei wichtigsten Mama-Satz der Welt: Du bist schön, so wie Du bist. Schönheit kommt von innen. Wenn Du Dich schön findest, finden andere Dich auch schön. Sulwe hört es, und denkt sich: Ja, so reden halt Mamas. Aber niemand sonst auf der Welt denkt das über mich.
Das Wunder des Sterns
Sulwes Mama hat ihre Tochter auf die Bedeutung ihres Namens aufmerksam gemacht, denn Sulwe bedeutet Stern (übrigens auch in Lupita Nyong’os Muttersprache Luo). Eine Sternschnuppe nimmt Sulwe mit auf eine nächtliche Reise. Sulwe erfährt von den beiden Schwestern Tag und Nacht, die sich sehr liebten und die doch sehr unterschiedliche Erfahrungen mit den Menschen machten. "Tag" war die Schöne, Klare und Strahlende, "Nacht" die Unheimliche, Schlechte und Hässliche. "Nacht" zieht sich tief verletzt zurück, und erst als sie weg ist, spüren die Menschen, was ihnen fehlt.
Ihre Schwester macht sich auf, sie zurückzuholen, denn sie weiß: "Wir brauchen Dich genauso, wie Du bist." Jede Schwester schenkt der anderen ein Stück von sich selbst – "Tag" gibt ihrer Schwester das Mondlicht, "Nacht" gibt ihrer Schwester den Schatten. Und Sulwe? Die wacht am nächsten Morgen auf und weiß, dass sie in die Welt gehört, so wie sie ist, und zum ersten Mal fühlt sie sich strahlend, stark und schön. Und sie weiß: Wenn sie das wieder vergessen sollte, genügt ein Blick hinauf zum nächtlichen Sternenhimmel.
Lupita Nyong‘o – die erste kenianische Oscar-Gewinnerin
Diese Autorin hat das, was Sulwe durchmacht, selbst erlebt. Den Selbsthass, die Wut über die dunkle Hautfarbe, die Verzweiflung darüber, einfach nirgends hinzugehören und hässlich zu sein. In einer machtvollen Rede hat sie über die Verführungskraft, sich inadäquat zu fühlen, gesprochen, denn das ist das Schlimme an dieser Art von Gift: es träufelt in die Seele und frisst sich tief hinein – und am Ende hält man für wahr, was falsch ist. Auch bei Lupita war es die Mutter, die ihre Tochter auf den richtigen Weg brachte und ihr sagte: Schönheit kannst Du nicht essen, Du kannst sie nicht erwerben. Du musst es sein. Es muss aus Dir selbst kommen.
Hören Sie ruhig mal rein in diese Rede:
https://www.essence.com/video/lupita-nyongos-black-women-hollywood-speech/
"Was uns wirklich stark macht, was wirklich schön ist, das ist Empathie – für uns selbst, und für die Menschen um uns herum. Diese Art von Schönheit entflammt das Herz und erfreut die Seele." Welche Kraft man entwickeln kann, wenn man den Samen der Selbstliebe gepflanzt hat, dafür ist Lupita Nyong’o ein genauso wunderbares Beispiel wie ihre kleine Heldin Sulwe.
Anmerkungen
*Lupita Nyong’o gewann 2014 für ihre Darstellung der Sklavin Patsey in "Twelfe Years a Slave" neben vielen anderen Auszeichnungen auch den Oscar. Der Film ist als DVD erhältlich, Streaming-Angebote gibt’s bei Amazon Prime und Apple TV.
**Der NAACP Image Award wird in den USA jährlich für besondere Leistungen von Afroamerikanern in Film, TV, Musik und Literatur vergeben. Wie beim Oscar werden die Preisträger von den Mitgliedern der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) gewählt und in 35 Kategorien vergeben. Den Preis gibt es seit 1969, die Preisverleihung wird im Fernsehen übertragen.
***Der Coretta Scott King Award ist eine jährliche Auszeichnung, die von der ALA (American Library Association) verliehen wird. Seinen Namen hat er von der Ehefrau Martin Luther Kings, ausgezeichnet werden herausragende Bücher für Kinder und Jugendliche, die von Afro-Amerikanern verfasst wurden und sich mit afro-amerikanischen Erfahrungen befassen. Den Preis gibt es seit 1970, unter den Preisträgern finden sich so bekannte Namen wie Maya Angelou, Sidney Poitier, Virginia Hamilton und Toni Morrison.
Weiterführende Links
Lupita Nyong’o liest "Sulwe"
https://www.youtube.com/watch?v=vujbTOuzg2Q
Über die Illustratorin Vashti Harrison
https://www.nytimes.com/2019/10/14/books/vashti-harrison-sulwe-brooklyn-studio.html
(Jutta Hamberger)+++
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