Was wir lesen, was wir schauen (52)

Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See

Tórshavn, die Hauptstadt der Färöer. Typisch sind die aneinandergedrängten Holzhäuser
© Pixabay

24.07.2022 / REGION - 18 Inseln im Nordatlantik zwischen Schottland, Norwegen und Island. 100 Orte und Dörfer. 1.289 km Küstenlinie. Eines der kleinsten Länder der Erde, eine eigene Sprache, eine eigene Kultur, eine gleichberechtigte Nation innerhalb des Königreichs Dänemark. Die ca. 50.000 Einwohner stammen von den Wikingern ab, die im 9. Jh. die Inseln besiedelten. Das sind die Färöer.



Wie kann ich anders leben?

Auf den Färöern leben mehr Schafe und Papageientaucher als Menschen. So erklärt sich auch der Name, denn Färöer bedeutet ‚Schafsinseln‘. Zum Meer ist es von nirgends aus weit. Das Klima ist rau, Regen gibt es fast täglich, aber nie lang und nie vorhersagbar. Auf den Färöern ist die Journalistin Anja Mazuhn beheimatet, die sich zuvor an und auf roten Teppichen, umgeben von VIPs und Promis, am wohlsten gefühlt hatte. Das heißt, wohlgefühlt hatte sie sich schon länger nicht mehr: "Was tun, wenn das Gefühl von Sinn schwindet, immer kleiner wird am Horizont, während man auf einem Meer alltäglicher Verpflichtungen treibt, zwischen Glitzer, Glamour und Oberflächlichkeiten? Irgendwann, irgendwo ist man vom Kurs abgekommen, und nun kreiselt man vor sich hin, Runde und Runde, (…), in einem Boot ohne Segel, ohne Kompass, ohne Ziel. Wie zieht man die Reißleine, ohne über Bord zu gehen? Wo geht man an Land?"

Manchmal hat kommt einem in einer solchen Situation das Schicksal zu Hilfe, und wenn es in Form einer TV-Dokumentation ist. Mazuhn und ihr Mann sahen einen Film über die Färöer, und waren hin und weg. Der Kurzurlaub ist schnell gebucht, auch wenn Januar nicht gerade die typische Färöer Reisezeit ist. Drei Tage später sind sie in Elduvík auf Eysturoy und erkunden die Inseln. Nach einer Woche sind sie zurück in Berlin, aber sie haben sich in die Färöer verliebt – und Mazuhns Mann kauft ein Haus dort. Und damit beginnt eine Aussteiger-Liebesgeschichte. Schon das Buch ist eine Reise", kann man in einer Leserinnen-Rezension lesen, und genauso ist es. Das Buch macht sehnsüchtig nach diesen rauen, liebenswerten Inseln im Norden.

Vill tú hava ein kaffimunn?

Mit dem Verlieben ist das ja so eine Sache – es kommt über einen, ist vollkommen unvorhersehbar und wirft ziemlich viel im Leben mal eben über den Haufen. Sich verlieben, sich auf jemand oder etwas einlassen, erfordert immer auch eine gehörige Portion Mut. Man weiß schließlich, dass es auch schiefgehen kann. Aber Anja Mazuhn und ihr Mann leben sich schnell ein. Die Insulaner schließen sie rasch in ihre Herzen. Das Färöer Leben ist undeutsch unkompliziert. Wie überall im Norden steht stets Kaffee bereit – "Willst Du einen Mundvoll Kaffee?", heißt die liebevolle Frage dazu. Und wenn man jemanden sehen will, geht man einfach hin. "Alles, was verabredet ist, aber weder konkretes Datum noch Uhrzeit hat, findet statt, es steht nur noch nicht fest, wann. Wetterabhängige Tätigkeiten, die erledigt werden müssen, wie Heu machen, Schafe treiben, Zaun bauen oder Haus streichen, haben prinzipiell Vorrang."

Das Wetter auf den Färöern ist launisch und unvorhersehbar, weswegen das meistgebrauchte Wort im Wetterbericht "kanska" (= vielleicht) lautet. Was auch bedeutet: Pläne kann man machen, aber das letzte Wort hat immer das Wetter. Manchmal ist das Wetter so, dass man nicht raus kann. Dann braucht man Tee oder Kaffee, Kerzen, etwas zu lesen oder etwas zu tun. In einem Klima, das viele kalte und dunkle Tage kennt, ist es notwendig, sich kreativ beschäftigen zu können. Das kann auch online geschehen, fast alle Insulaner haben ein Facebook-Profil, besonders gern posten sie Bilder von den Inseln, oft mit Rätselraten verbunden, wo denn nun dieser oder jener Landschaftsschnipsel hingehöre.

Gerðabýti – sich gegenseitig unterstützen

Wer Hilfe benötigt, bekommt diese von den Nachbarn: "Versorgungskreise von Menschen, die sich gegenseitig beschenken und unterstützen, gibt es überall auf den Inseln. Das hat Tradition, macht Spaß und heißt Gerðabýti. Neben färöischen und dänischen Kronen die dritte Währung", so Anja Mazuhn. Dabei geht es nie ums genaue Aufrechnen, sondern um die Freude am Geben. Vielleicht typisch für eine kleine Gemeinschaft, die immer auch eine Welt für sich ist. Nachbarin Tjoðhild erklärt Anja, dass vieles möglich sei auf einer kleinen Insel. "Du willst einen Swimmingpool hinterm Haus? Nimm Deine Schaufel und fang an zu graben. Und schon tauchen vier Dorfbewohner mit ihren Schaufeln auf und graben mit."

So sei auch das Nóllywood-Schild bei Nólsoy entstanden, eine Gemeinschaftsarbeit von Dorfbewohnern und Filmstudenten, das jeden Winter ab- und im Frühjahr wieder aufgebaut wird – denn auf Nólsoy gibt’s nun mal mehr Wind als in L.A. Aber dann ist es ein Treffpunkt, an dem man kulinarische Köstlichkeiten anbietet und ausprobieren kann. Wer grad kein Geld dabei hat, der spült oder backt oder packt sonstwie mit an.

Tjoðhild selbst kann Waffeln backen, Kleidung färben und ein Café führen, sie kennt sich mit Hühnern aus, organisiert Veranstaltungen und lehrt an der Universität in Tórshavn Statistik. Denn nirgends steht geschrieben, dass man sich festlegen muss. "Wir Färinger machen viele verschiedene Dinge gleichzeitig, weil uns die Inseln die Möglichkeit dazu bieten", ist Tjoðhilds Erklärung dafür. Anja Marzuhn sieht in dieser Bereitschaft und Flexibilität der Menschen, viele Dinge zu tun und auszuprobieren, den Färöer Inselzauber walten.

Färingische Festivals

Die Färinger feiern gern. Und auf den Inseln gibt’s Feste für jeden Geschmack, Bootspartys, Papageientaucher gucken bei Mykines, der Seemannstag, das Strickfestival, das Open Stage, diverse Dorf- und Familienfeste. Manche Feste gleichen denen in Deutschland, aber es gibt eben auch die, die man nur auf den Färöern feiern kann.

Jährlich findet auf Eysturoy in Syðrugøta das G! Festvial statt, einem Ort mit gerade mal 400 Einwohnern, zum Festival werden ca. 5.000 Fans erwartet. Folk, Pop, Rock ’n’ Roll – ein musikalisches Kaleidoskop. Drei Tage Party, im Ort und am Strand – vom 14. bis zum 16. Juni 2022. Im letzten Jahr fiel es coronabedingt aus, umso größer ist die Vorfreude heuer. Die meisten Acts kommen aus Großbritannien und Skandinavien, aber das Allerwichtigste sind die einheimischen Künstler/innen. Natürlich sind auch die Marzuhns bei diesem Festival immer dabei – ihr Highlight ist das Sing-along, wenn "aus dem Stand Hunderte Besucher zusammen Liebeslieder, Oden an das Meer und Hymnen auf die Insel singen."

"Nirgendwo sonst dürften auf den Quadratmeter umgerechnet so viele Wollpullover gestrickt und getragen werden wie auf den Färöern. Wenn man einmal anfängt, darauf zu achten, hört man überall Stricknadeln klappern, an allen möglichen und unmöglichen Orten", so Anja Mazuhn. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Schafe und Schafwolle auf den Inseln ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind. Im April findet in Fuglafjørdur das Bindifestivalur, das Strickfestival, statt. Jede/r kann mitmachen, es geht weniger um Stricktechniken und -muster, sondern v.a. um die Tradtionen der Färöer.
 

Das verflixte siebte Jahr

Die Mazuhns leben inzwischen sieben Jahre auf den Färöern oder in Nordfriesland. Seit einigen Jahren schreibt Anja Marzuhn einen Blog über die Inseln. Ihr Mann hat mit der Nordic Wool Factory in Klintum ein erfolgreiches Projekt mit färöischer Schafswolle gestartet. Beides entstand aus der Sehnsucht, neue Wege zu gehen. Sie, die Journalistin, er, der Kulturmanager. Es ist ein Weg, der heute Pendeln zwischen Deutschland und den Färöern bedeutet. "Das Tempo zurückzufahren hat gut getan. Die Auffassung vom Sein, die Bewertung und Betrachtungsweise der Dinge, die Denkweise, die wir auf den Färöern gefunden und auf unser Leben in Deutschland übertragen haben, ist eine gelassene."

Das kann man in diesem kurzweiligen Buch auf jeder Seite spüren, man kann und soll sich einlassen auf diese emotionale Reise, bei der schon das Lesen Abenteuerlust weckt und vielleicht auch den Gedanken, über das eigene Glück intensiver nachzudenken. Denn das ist vielleicht – neben der Liebeserklärung an die Färöer, ihre Menschen und Schafe – das Wesentliche dieses Buches: Wollen wir im Einklang mit uns selbst leben, brauchen wir Geschichten, Menschen, Freundschaften -  und die Natur um uns herum.
 

Weiterführende Links

Anjas Blog über die Inseln: https://the-faroe-islands.com/blog

Die Nordic Wool Factory ihres Mannes Francesco: https://www.nordicwoolfactory.com/

https://www.sueddeutsche.de/panorama/faeroeer-okay-google-warum-sprichst-du-nicht-faeroeisch-1.4138247

https://rove.me/de/to/faroe-islands/seamans-day

(Jutta Hamberger)+++

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