Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
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08.01.2023 / REGION -
In meinem 4. Studiensemester war ich kurz davor, hinzuschmeißen. Ich machte meine Scheine, befasste mich sonst aber nur mit Agatha Christies Krimis. Das war sehr vergnüglich und erwies sich als perfekte Krisenbewältigung. Einige ihrer Romane gehören bis heute zu meinen Lieblingsbüchern. Heute stelle ich Ihnen den mit dem vielleicht perfidesten Plot und problematischsten Titel vor.
Verwirrender Titel
Das Setting des Romans ist schlichtweg brillant. Zehn Menschen, die einander nicht kennen und deren Lebenswege sich noch nie gekreuzt haben, werden von dem exzentrischen Milliardärs Owen auf eine Insel eingeladen. Glauben sie zumindest. Dass die Insel nur per Schiff erreichbar ist, gehört zur klaustrophoben Atmosphäre des Romans.
Die Gäste stellen einen Querschnitt durch die englische Gesellschaft dar. Vom emeritierten Richter, zwei ehemaligen Offizieren, einer bigott-religiösen Jungfer, einer farblosen und unverheirateten Lehrerin, einem aus Butler und Köchin bestehenden Haushälterpaar, einem Arzt aus der fashionablen Harley Street, einem Ex-Polizisten und einem Playboy, der außer schnellen Autos wenig im Sinn hat, ist alles versammelt.
Und was machen Menschen, die Angst haben, sich nicht kennen und sich zu recht oder unrecht beschuldigt fühlen? Sie klagen einander an, unterstellen sich alles Mögliche – statt sich zu verbünden, wird es rasch ein Kampf von jedem gegen jeden. Natürlich ist auch das orchestriert vom tatsächlichen Mörder, der seine Opfer offensichtlich sehr gut kennt und die meisten Schritte und Handlungsweisen antizipiert hat.
Cosy Crime vom Feinsten
Agatha Christie ist die Königin des Kriminalromans in seiner Spielart "cosy crime". Ja, auch hier gibt es Tote. Aber es gibt keine blutigen Exzesse oder übermäßige Gewalt. Man verschüttet beim Lesen keinen Tee und gruselt sich nicht, sondern kuschelt sich in seinen Lesesessel. Vielleicht liegt genau darin die Kraft dieses Genres – es tut einfach gut.
Die Heldinnen und Helden sind in der Regel weder Übermenschen noch professionelle Ermittler, sondern ganz normale Leute. Meist spielen die Fälle an ausgesprochen schönen Orten – vom malerischen Dorf bis zu mysteriös-exotischen Schauplätzen. Es beginnt immer gemütlich, jeder Roman schafft zu Beginn eine Wohlfühl-Atmosphäre – gleichermaßen für die handelnden Personen wie für uns Leser.
Zynischer war Christie nie
In diesem Krimi aber ist – vom Setting mal abgesehen – nichts kuschelig und nett. Christie entfaltet einen wahren Alptraum: man ist eingeschlossen, das Gefühl von Klaustrophobie wächst, man fühlt sich allein und schuldig, Misstrauen, Angst und Hass wachsen. Der Roman gleicht einem Experiment – und das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft für unsere Spezies. Ganz offenbar sind wir sehr verführbar für das Böse.
Lassen wir die Autorin doch selbst Werbung für die Lektüre machen! Im Vorwort zum Roman beschreibt Agatha Christie, wie anspruchsvoll dieser Roman vom Konzept her war: "Zehn Menschen mussten sterben, ohne dass es lächerlich wurde oder der Mörder zu schnell offensichtlich war. Ich habe diesen Roman nach einer ungeheuer intensiven Planungsphase geschrieben und bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Er ist klar, direkt, verblüffend, und hat doch eine bemerkenswert einleuchtende Auflösung."
Weiterführende Links
Zur Geschichte eines umstrittenen Kinderbuchs: https://www.zeitlupe.co.at/zehnkleine.html
Wie zehn kleine Negerlein einfach verschwinden: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article13887699/Wenn-Zehn-kleine-Negerlein-einfach-verschwinden.html
Jetzt mit politisch korrektem Titel:
https://www.spiegel.de/kultur/literatur/zehn-kleine-negerlein-christie-krimi-mit-neuem-titel-a-185616.html
Windswept Island:
https://www.spectator.co.uk/article/the-windswept-island-where-agatha-christie-wrote-her-finest-novel/
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