Was wir lesen, was wir schauen (60)

Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt

Ein Regenbogen über der Küste Devons – Setting für diesen Kriminalroman Agatha Christies
Foto: © Pixabay

08.01.2023 / REGION - In meinem 4. Studiensemester war ich kurz davor, hinzuschmeißen. Ich machte meine Scheine, befasste mich sonst aber nur mit Agatha Christies Krimis. Das war sehr vergnüglich und erwies sich als perfekte Krisenbewältigung. Einige ihrer Romane gehören bis heute zu meinen Lieblingsbüchern. Heute stelle ich Ihnen den mit dem vielleicht perfidesten Plot und problematischsten Titel vor.

Verwirrender Titel



Die Vielfalt an Buchtiteln für diesen Roman kann einen verwirren. Die erste deutsche Ausgabe hieß "Das letzte Weekend", wurde in den 1980er Jahren analog zum englischen Original zu "Zehn kleine Negerlein". Seit 2003 lautet der Titel "Und dann gab’s keines mehr". Der Originaltitel "Ten little Niggers" war und ist zutiefst rassistisch, 1939 hatte man nicht nur in Großbritannien dafür kaum Bewusstsein.

Bevor Sie jetzt Angst vor einer politisch-korrekten Woke-Diskussion um "N-Worte" und Rassismus bekommen – keine Sorge, passiert nicht. Ich finde es aber wichtig und richtig, sich diesen Aspekt bewusst zu machen. Gerade, weil der Abzählvers "Zehn kleine Negerlein" besonders in England und Deutschland eine über 100-jährige Geschichte als Bestseller hat. Er existiert in vielen Versionen. Das Original stammt aus den USA und hieß "Ten little Indians". 1869 entstand die Version, die Agatha Christie für ihren Roman wählte. Es ging immer um die pädagogisch verbrämte Herabwürdigung von Menschen mit dunkler Hautfarbe, es war immer brutal, es war immer rassistisch.

Zu Christies Ehrenrettung sei gesagt, dass sie nur der Abzählvers interessierte – nach und nach kommen in diesem Roman zehn Menschen zu Tode, und zwar immer passend zum Abzählvers.

Gefangen auf einer Insel

Das Setting des Romans ist schlichtweg brillant. Zehn Menschen, die einander nicht kennen und deren Lebenswege sich noch nie gekreuzt haben, werden von dem exzentrischen Milliardärs Owen auf eine Insel eingeladen. Glauben sie zumindest. Dass die Insel nur per Schiff erreichbar ist, gehört zur klaustrophoben Atmosphäre des Romans.

Soldier Island gibt es tatsächlich, es heißt in Wahrheit Burgh Island und hat eine ähnlich exzentrische Vergangenheit wie im Roman behauptet. Agatha Christie war gut bekannt mit Archie Nettleford, dem Erbauer des Art-déco-Hotels auf der Insel. In seinem Comedy Theatre in London wurden Christies Theaterstücke regelmäßig aufgeführt, und die Autorin erholte sich gern in dem luxuriösen Hotel. Der Mix aus Abgeschiedenheit und Glamour muss faszinierend gewesen sein. Insel und Hotel waren Inspiration sowohl für "Und dann gab's keines mehr" als auch den Hercule-Poirot-Krimi "Das Böse unter der Sonne" von 1941.

Die Gäste stellen einen Querschnitt durch die englische Gesellschaft dar. Vom emeritierten Richter, zwei ehemaligen Offizieren, einer bigott-religiösen Jungfer, einer farblosen und unverheirateten Lehrerin, einem aus Butler und Köchin bestehenden Haushälterpaar, einem Arzt aus der fashionablen Harley Street, einem Ex-Polizisten und einem Playboy, der außer schnellen Autos wenig im Sinn hat, ist alles versammelt.

Alle Gäste waren zwar mäßig verwundert über die Einladung, aber die Neugier auf den Aufenthalt besiegt alle Zweifel. Auf der Insel angekommen müssen sie feststellen, dass ihr Gastgeber nicht da ist, und dass keiner von ihnen den mysteriösen Mr. Owen je zu Gesicht bekommen hat. Gutes Essen und guter Wein verjagen die aufkeimenden seltsamen Gefühle. Als alle wohlig satt und zufrieden im Salon sitzen und der Butler den Whisky bringt, ertönt plötzlich eine Stimme: "Sie werden des folgenden Verbrechens angeklagt" –es folgt eine Auflistung der Taten, für die keiner der Anwesenden je juristisch dingfest gemacht werden konnte. Alle sind indigniert und streiten den Vorwurf vehement ab.

Dann aber stirbt der Erste. Zunächst versuchen die Eingeschlossenen, dem Mord mit Logik auf die Spur zu kommen. Fakten werden überprüft, Theorien entwickelt und verworfen, Motive bewertet. Einer kommt darauf, dass der Name ihres Gastgebers, U. N. Owen – auch ein Anagramm für "Unknown", also unbekannt, sein könnte. Das Unbehagen wächst. Denn die auf der Insel von der Außenwelt abgeschnittenen Menschen begreifen schnell, dass der Mörder oder die Mörderin nur einer von ihnen sein kann.

Und was machen Menschen, die Angst haben, sich nicht kennen und sich zu recht oder unrecht beschuldigt fühlen? Sie klagen einander an, unterstellen sich alles Mögliche – statt sich zu verbünden, wird es rasch ein Kampf von jedem gegen jeden. Natürlich ist auch das orchestriert vom tatsächlichen Mörder, der seine Opfer offensichtlich sehr gut kennt und die meisten Schritte und Handlungsweisen antizipiert hat.

Cosy Crime vom Feinsten

Agatha Christie ist die Königin des Kriminalromans in seiner Spielart "cosy crime". Ja, auch hier gibt es Tote. Aber es gibt keine blutigen Exzesse oder übermäßige Gewalt. Man verschüttet beim Lesen keinen Tee und gruselt sich nicht, sondern kuschelt sich in seinen Lesesessel. Vielleicht liegt genau darin die Kraft dieses Genres – es tut einfach gut.

Die Heldinnen und Helden sind in der Regel weder Übermenschen noch professionelle Ermittler, sondern ganz normale Leute. Meist spielen die Fälle an ausgesprochen schönen Orten – vom malerischen Dorf bis zu mysteriös-exotischen Schauplätzen. Es beginnt immer gemütlich, jeder Roman schafft zu Beginn eine Wohlfühl-Atmosphäre – gleichermaßen für die handelnden Personen wie für uns Leser.

Derart eingelullt trifft uns das Verbrechen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und das ist schon Teil des Glatteises, auf das Christie uns führt. Jeder Roman gleicht einem Puzzle – Ehrensache, dass die Autorin uns keine Hinweise vorenthält. Aber natürlich interpretieren wir sie oft falsch oder übersehen sie. Christie entlarvt, reißt genüsslich die Masken von Ehrbarkeit und Frömmigkeit vom Gesicht – dabei blitzt immer wieder ihr typisch britischer Humor auf.

Zynischer war Christie nie

In diesem Krimi aber ist – vom Setting mal abgesehen – nichts kuschelig und nett. Christie entfaltet einen wahren Alptraum: man ist eingeschlossen, das Gefühl von Klaustrophobie wächst, man fühlt sich allein und schuldig, Misstrauen, Angst und Hass wachsen. Der Roman gleicht einem Experiment – und das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft für unsere Spezies. Ganz offenbar sind wir sehr verführbar für das Böse.

Tatsächlich sind neun der Gäste schuldig im Sinne der Anklage – waren aber trotz mancher Verdachtsmomente als Mörder nie zu überführen. Und auch der zehnte Gast und Mörder ist schuldig, weil er Schicksal spielt und die anderen als Rächer ermordet. Der Mörder hinterlässt als Vermächtnis die Aufklärung seines perfekten Verbrechens. Das kann er tun, ohne Folgen zu befürchten, denn auch er ist zu diesem Zeitpunkt tot.

Lassen wir die Autorin doch selbst Werbung für die Lektüre machen! Im Vorwort zum Roman beschreibt Agatha Christie, wie anspruchsvoll dieser Roman vom Konzept her war: "Zehn Menschen mussten sterben, ohne dass es lächerlich wurde oder der Mörder zu schnell offensichtlich war. Ich habe diesen Roman nach einer ungeheuer intensiven Planungsphase geschrieben und bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Er ist klar, direkt, verblüffend, und hat doch eine bemerkenswert einleuchtende Auflösung."

Weiterführende Links

Zur Geschichte eines umstrittenen Kinderbuchs: https://www.zeitlupe.co.at/zehnkleine.html

Wie zehn kleine Negerlein einfach verschwinden: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article13887699/Wenn-Zehn-kleine-Negerlein-einfach-verschwinden.html

Jetzt mit politisch korrektem Titel:

https://www.spiegel.de/kultur/literatur/zehn-kleine-negerlein-christie-krimi-mit-neuem-titel-a-185616.html

Windswept Island:

https://www.spectator.co.uk/article/the-windswept-island-where-agatha-christie-wrote-her-finest-novel/

(Jutta Hamberger)+++

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