Was wir lesen, was wir schauen (116)
Treasure – ein Film von Julia von Heinz - Familie ist ein fremdes Land
© Jutta Hamberger
27.04.2025 / FULDA -
Am 27. April 1940 ordnet Himmler den Bau des Konzentrationslagers Auschwitz an, ein Lager, das von Anfang an als Vernichtungslager vorgesehen war. Heute, 85 Jahre später, möchte ich Ihnen einen Film ans Herz legen, der in Auschwitz beginnt und endet. "Treasure – Familie ist ein fremdes Land" von Julia von Heinz - ist eine Vater -Tochter-Geschichte, ein Film über das Schweigen zwischen den Generationen und ein jüdisches Roadmovie. "Treasure" ist ein tief anrührendes, tragikomisches Meisterwerk.
Eine universelle Geschichte
Durch den 7. Oktober und die danach weltweit ausbrechende Antisemitismus-Welle ist "Treasure" noch aktueller geworden, als er es ohnehin ist. Am Tag des Hamas-Massakers liefen die Dreharbeiten noch, das Team war sich schnell einig, den Filmstart nach vorn zu ziehen – und den Film auf der Berlinale 2024 zu zeigen. So geschah es dann auch. Man kann und soll den Film also durchaus als Statement gegen die Welle von Antisemitismus verstehen, der gerade durch die Welt schwappt.
Liest man die Nachrichten dieser Tage und Wochen, muss man beiden zustimmen – und ein Jahr nach der Filmpremiere ist nichts besser, vieles sogar noch schlimmer geworden.
In "Treasure" begibt sich die amerikanische Musikjournalistin Ruth Rothwax auf eine Rundreise durch Polen, gemeinsam mit ihrem Vater Edek, einem Holocaust-Überlebenden. Wir sind im Jahr 1992, noch ‚sieht‘ man den Osten in seiner ganzen Schäbigkeit und Tristesse. Die Verständnisprobleme zwischen Ruth und den Menschen in Polen existieren nicht nur, weil sie kein Polnisch kann, sondern weil sie aus einer gänzlich fremden Welt kommt. Man ist sich sehr fremd.
Edek ist kauzig, humorvoll und charmant, lässt aber niemanden wirklich an sich heran. Ruth ist geschieden und ziemlich neurotisch – bei ihren Frühstücksgewohnheiten angefangen bis hin zu einer eintätowierten KZ-Nummer. Man fragt sich früh, ob und wie beides miteinander zusammenhängt und spürt, dass die Sprachlosigkeit zwischen Ruth und Edek auch damit zusammenhängt, dass sie nichts von seiner Geschichte weiß.
Edek folgt Ruth nur unwillig bei ihrer Suche nach Erinnerungsstücken und sabotiert ihre Pläne immer wieder. Weder will er die Ruine der Fabrik anschauen, die der Familie einst gehörte, noch die Wohnung gehen, in der die Familie bis zur Deportation 1940 wohnte. Er freundet sich noch am Flughafen in Warschau mit dem Taxifahrer Stefan an, obwohl Ruth Zugtickets gekauft hat, um von Warschau in die ehemalige Heimatstadt Lodz zu fahren. Ihr Vater aber zieht Stefans Mercedes dem Zug vor. Denn Mercedes mag er, nur die Deutschen hasst er.
Erinnern, um mit den Traumata fertig zu werden
Ruth spürt mit jeder Stunde dieser Reise, wie wenig sie eigentlich von ihrem Vater und seinem Schicksal weiß. Am schrecklichsten Ort der Welt – den seine Insassen ‚Anus Mundi‘ nannten – kommen die beiden sich endlich nahe. Die Traumata sind damit nicht verarbeitet, aber die beiden schaffen es, endlich miteinander zu reden.
Eine gewisse Bissigkeit hat der Film, wenn etwa Ruth Tourismus-Guides und Hotelangestellte streng korrigiert, Auschwitz sei kein Museum, sondern ein Todeslager. Kein running gag, sondern extrem nötig, auch, wenn man die Geschäftigkeit des heutigen Betriebs in Auschwitz vor Augen hat oder die Vermarktung von Fahrten dorthin.
Und was ist nun der titelgebende Schatz? Vor allem wohl die Erinnerungen und die Geschichte, so schmerzlich sie auch sein mögen – symbolisiert durch die Blechbüchse, die Edek an der Hausschwelle ausgräbt, wo er sie einst mit seinem Vater versteckt hatte. Der Film ist auf DVD und diversen Streaming-Portalen erhältlich.
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