Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
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09.10.2022 / REGION -
"Im Grunde genommen regiert seit 1917 der Geheimdienst Russland bzw. die Sowjetunion. Mit einer kurzen Unterbrechung unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. Deswegen hat es nie eine wirkliche Entstalinisierung gegeben. Und das ist das Grundproblem: Putin ist ein Erbe Stalins." (John Sweeney).
Wer sich informieren will, was in Putins Reich los ist, findet in Sweeneys gerade erschienenem Buch reichlich Material. Wer immer noch glaubt, man könne mit Putin verhandeln wie mit ‚normalen‘ Staatsoberhäuptern, kann sich auf einen Schock gefasst machen. Die jüngsten Ereignisse bestätigen Sweeneys Analyse einmal mehr.
§ Vergiftet im Auftrag des Kreml
§ Tod durch/im ‚gefährlichen‘ Transportmittel (Auto oder Flugzeug)
§ Umgekommen unter dubiosen Umständen
§ Aus dem Fenster gestürzt
Ein Mann des Mittelmaßes
Verschmelzung von Mafia und Geheimpolizei
Putin ging zurück nach Russland und nutzte seine Kontakte zum Petersburger Bürgermeister Sobtschak, der ihn einstellte. Während Sobtschak die Stadt liberalisierte, unterminierte Putin den Rechtsstaat. Er pervertierte Polizei und Justiz für seine kriminellen Machenschaften: "Aus Institutionen für die Durchsetzung des Rechts wurden Werkzeuge für dessen Unterwanderung. Alles, was Putin in Russland anstellte, nachdem er 2000 zum Herrn des Kremls aufgestiegen war, exerzierte er vorher in St. Petersburg durch", so Sweeney. In Petersburg ginge das Wort um, Sobtschak sei tagsüber Bürgermeister, Putin nachts. Als Sobtschak 1996 aus dem Amt vertrieben wurde, brachte er Putin an untergeordneter Stelle im Kreml unter.
Mitte der 1990er Jahre herrschte in Russland unter Jelzin Chaos. "Das immense Volksvermögen der Sowjetunion wurde auf die Bankkonten einiger weniger Männer geschleust, und dabei verwandelte sich Russland gleichsam über Nacht in eine der sozial ungerechtesten Gesellschaften der Welt", so Sweeney. So erklärt sich, dass die Russen an diese Zeit so schlechte Erinnerungen haben. Jelzins Tage sind gezählt. Boris Beresowski, einer der mächtigen Oligarchen, guckte sich Putin als Nachfolger Jelzins aus, v.a. weil er davon ausging, dass er und die anderen Oligarchen Putin kontrollieren können. 1999 ernennt Jelzin Putin zum geschäftsführenden Premierminister der russischen Föderation. Damit hat Putin den Schlüssel zum Kreml. Er muss nur noch gewählt werden. Dabei gibt es aber ein Problem.
Der russische Faschist
Putins Umfragewerte waren vor der Wahl unterirdisch schlecht. Niemand interessierte sich für den farblosen Bürokraten aus dem Kreml. Wie ändert man das? Mit dem einfachsten und probatesten mittel der Welt – man sucht einen Feind, gegen den man Krieg führt– fertig ist die perfekte Ablenkung von der Innenpolitik. Mit Bomben in Moskauer Wohnblöcken begann der zweite Tschetschenien-Krieg. Wie man heute weiß, war das eine fingierte Aktion des KGB, die man den um ihre Freiheit von der Russischen Föderation kämpfenden Tschetschenen in die Schuhe schob.
Das Schmierentheater gelang perfekt. Putins Werte stiegen. "Im September 1999 ist meiner Meinung nach der Zeitpunkt, an dem Russland aufhörte, eine Demokratie zu sein. Die Bombenanschläge auf die Moskauer Wohnblöcke waren Putins Sündenfall", so Sweeney. In Tschetschenien führte Putin einen grausamen, brutalen Krieg – all die Bilder, die wir seit Februar 2022 aus der Ukraine kennen, gibt es auch aus Grosny und anderen tschetschenischen Orten.
Genau hier begann die Fehleinschätzung des Westens, der Putin für einen Demokraten halten wollte, weil der dem Kommunismus abgeschworen hatte. Putins Weltsicht aber war sein ganz eigenes Gebräu: "Ultranationalismus, Hass auf andere, Verachtung gegenüber einer freien Presse und Meinungsfreiheit, Intoleranz gegenüber Spott und Humor, zutiefst konservative gesellschaftliche Wertvorstellungen, ein unfreier Markt, der an die politische Macht verpfändet ist, Verehrung für den KGB" – Sweeney nennt Putin einen russischen Faschisten.
Ein Menetekel namens Kursk
Im August 2000 sank das russische Atom-U-Boot Kursk bei einem Militärmanöver in der Barentsee. Die NATO hatte das Wissen und die Ausrüstung, um zu helfen und bot beides sofort an, der Kreml reagierte nicht einmal. Als britische und norwegische Taucher endlich helfen durften, gelang es ihnen, eine Luke des U-Boots zu öffnen – aber es war zu spät. Sie fanden nur noch Tote vor. Sweeney dazu: "Alles um den tragischen Untergang der Kursk wirkt bereits wie ein Fingerzeig auf die Invasion der Ukraine im Jahr 2022 – das völlige Desinteresse des Kremls am eigenen Volk, die marode und veraltete Ausrüstung, die Verachtung für eine ordentliche Untersuchung, das Abwürgen berechtigter Kritik."
Das korrupteste System der Welt
Eine kleine Anekdote, die Sweeney erzählt, verdeutlicht, wie ungeheuerlich und wie tiefgreifend die Korruption in Russland alles zerfressen hat. Bekanntlich fanden die Ukrainer in verlassenen russischen Armeefahrzeugen Lebensmittelrationen, deren Haltbarkeitsdatum schon vor mehreren Jahren abgelaufen war. Der makabre Witz dabei: Für die Versorgung der Soldaten ist Putin-Freund Jewgeni Prigoschin zuständig, oft "Putins Koch" genannt. Sein Firmenimperium kontrolliert 90 Prozent der Lebensmittelversorgung der russischen Armee. Der Russland-Kenner Christo Grosew setzte dazu folgenden Tweet ab: "Während die russischen Soldaten hungern und in gestürmten ukrainischen Häusern um Brot betteln, überschwemmen Prigoschins angeblich ‚nicht für den Handel bestimmte Lebensmittelrationen‘ russische Flohmarkt-Portale zum Preis von 3 Dollar pro Dose." Den Namen Prigoschin haben Sie im Krieg gegen die Ukraine mehrfach auch in einem anderen Zusammenhang gehört – Prigoschin gründete nämlich auch die Söldnertruppe Wagner, besonders brutale und unmenschliche Schergen.
Krieg gegen den Westen und nützliche Idioten
Ist also alles hoffnungslos? Nein. "Der letzte Romanov beging einen ähnlichen Fehler wie Putin heute: Er überschätzte die Kampfkraft der russischen Streitkräfte und der Bereitschaft der Zwangsrekrutierten hoffnungslos (…). Nikolaus II. wurde im Juli 1918 mitsamt seiner ganzen Familie in Jekaterinburg erschossen. Ich traue mir die Voraussage zu, dass Putin nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt verbringen wird."
Ob es nach Putin besser wird, weiß natürlich niemand, aber immerhin hat Russland dann die Chance dazu – und mit ihm die Welt.
Weiterführende Links
https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_92355698/suechtiger-im-kreml-putin-wird-nicht-mehr-lange-unter-uns-weilen-.html
https://www.stern.de/gesellschaft/ukraine--zwischen-clowns-und-toten-zivilisten---was-john-sweeney-in-kiew-erlebt-31680142.html
https://www.sheffieldtribune.co.uk/p/john-sweeney-on-reporting-in-sheffield
Prigoschins Einfluss in Deutschland: https://www.youtube.com/watch?v=_rxiD6bq1A4
Untergang der Kursk: https://www.spiegel.de/geschichte/untergang-der-kursk-2000-russlands-tragoedie-putins-bewaehrungsprobe-a-8df7dfea-7b0c-4dc6-a045-5c26c6796859
Putins Palast: https://www.stern.de/politik/ausland/wladimir-putin--einblicke-in-seinen-palast---groessenwahn-in-marmor-und-gold-30011002.html
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