Was wir lesen, was wir schauen (54)

John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption

Seit mehr als 7 Monaten herrscht Krieg, und Putin eskaliert immer weiter
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09.10.2022 / REGION - "Im Grunde genommen regiert seit 1917 der Geheimdienst Russland bzw. die Sowjetunion. Mit einer kurzen Unterbrechung unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. Deswegen hat es nie eine wirkliche Entstalinisierung gegeben. Und das ist das Grundproblem: Putin ist ein Erbe Stalins." (John Sweeney).



Die Todeslisten

Wer sich informieren will, was in Putins Reich los ist, findet in Sweeneys gerade erschienenem Buch reichlich Material. Wer immer noch glaubt, man könne mit Putin verhandeln wie mit ‚normalen‘ Staatsoberhäuptern, kann sich auf einen Schock gefasst machen. Die jüngsten Ereignisse bestätigen Sweeneys Analyse einmal mehr.

Seitdem Putin russischer Präsident ist, hat er durch direktes Tun etwa 150.000 Menschen auf dem Gewissen. Zehntausende fielen im zweiten Tschetschenien-Krieg, Tausende in Syrien, Tausende in der Ukraine. Dazu haufenweise bestellte Morde. Einer der erschütterndsten Parts dieses Buchs sind die Todeslisten, die Sweeney zusammenstellt (im Buch ab S. 248) – es stehen viele Namen darauf, und viele werden sie kennen. Aktuell müsste man die Liste übrigens um weitere Namen erweitern, denn im September gab es erneut mysteriöse Todesfälle:

§  Vergiftet im Auftrag des Kreml

§  Erschossen auf offener Straße

§  Tod durch/im ‚gefährlichen‘ Transportmittel (Auto oder Flugzeug)

§  Umgekommen unter dubiosen Umständen

§   Aus dem Fenster gestürzt

Allen Opfern ist eins gemeinsam – sie kritisierten Putin als Mensch und waren Gegner seiner Politik, sie gingen Skandalen und Vorwürfen nach, oder Putin sah in ihrer Popularität eine Gefahr für seine Macht.

Ein Mann des Mittelmaßes

Über Putins Kindheit und Jugend ist nicht viel bekannt. Er wuchs in Leningrad auf, und das in einfachsten Verhältnissen. 1975 machte Putin seinen Studienabschluss in Jura und trat ins KGB ein. Für junge Russen war das ein Ticket in ein gutes Leben, die besten Absolventen wurden mit Auslandsjobs an begehrten Orten im Westen belohnt. Putin jedoch bekam nur einen Job in Leningrad, später wurde er nach Dresden entsandt – kein wichtiger Posten. Was er wirklich gemacht hat – Zeitungsartikel sammeln oder die RAF finanzieren – darüber gibt es geteilte Meinungen. 1987 zeichnete die DDR ihn für seine Zusammenarbeit mit der Stasi mit einer Verdienstmedaille in Bronze aus, die niedrigste Ordensstufe. Nichts in diesem Leben war mehr als Mittelmaß, nichts ließ erkennen, dass dieser Mann einst im Kreml herrschen würde.

Und dann zerfiel die Sowjetunion in rasendem Tempo. Die Gründe dafür kann man klar benennen: Die Nachwirkungen des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan 1979, das Debakel von Tschernobyl 1986, und die Untauglichkeit der kommunistischen Kommandowirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft. Laut Sweeney hat Putin die Implikationen dieser drei Gründe nie verstanden. Stattdessen entwickelte er ein giftig-ideologisches Gebräu, in dessen Lesart der Zusammenbruch der Sowjetunion allein der Perfidie und dem Verrat des Westens geschuldet ist. Sweeney spricht von einer "katastrophal verengten Weltsicht, eingetaucht in ein finsteres und falsches Verrats-Narrativ".

Verschmelzung von Mafia und Geheimpolizei

Putin ging zurück nach Russland und nutzte seine Kontakte zum Petersburger Bürgermeister Sobtschak, der ihn einstellte. Während Sobtschak die Stadt liberalisierte, unterminierte Putin den Rechtsstaat. Er pervertierte Polizei und Justiz für seine kriminellen Machenschaften: "Aus Institutionen für die Durchsetzung des Rechts wurden Werkzeuge für dessen Unterwanderung. Alles, was Putin in Russland anstellte, nachdem er 2000 zum Herrn des Kremls aufgestiegen war, exerzierte er vorher in St. Petersburg durch", so Sweeney. In Petersburg ginge das Wort um, Sobtschak sei tagsüber Bürgermeister, Putin nachts. Als Sobtschak 1996 aus dem Amt vertrieben wurde, brachte er Putin an untergeordneter Stelle im Kreml unter.

Mitte der 1990er Jahre herrschte in Russland unter Jelzin Chaos. "Das immense Volksvermögen der Sowjetunion wurde auf die Bankkonten einiger weniger Männer geschleust, und dabei verwandelte sich Russland gleichsam über Nacht in eine der sozial ungerechtesten Gesellschaften der Welt", so Sweeney. So erklärt sich, dass die Russen an diese Zeit so schlechte Erinnerungen haben. Jelzins Tage sind gezählt. Boris Beresowski, einer der mächtigen Oligarchen, guckte sich Putin als Nachfolger Jelzins aus, v.a. weil er davon ausging, dass er und die anderen Oligarchen Putin kontrollieren können. 1999 ernennt Jelzin Putin zum geschäftsführenden Premierminister der russischen Föderation. Damit hat Putin den Schlüssel zum Kreml. Er muss nur noch gewählt werden. Dabei gibt es aber ein Problem.

Der russische Faschist

Putins Umfragewerte waren vor der Wahl unterirdisch schlecht. Niemand interessierte sich für den farblosen Bürokraten aus dem Kreml. Wie ändert man das? Mit dem einfachsten und probatesten mittel der Welt – man sucht einen Feind, gegen den man Krieg führt– fertig ist die perfekte Ablenkung von der Innenpolitik. Mit Bomben in Moskauer Wohnblöcken begann der zweite Tschetschenien-Krieg. Wie man heute weiß, war das eine fingierte Aktion des KGB, die man den um ihre Freiheit von der Russischen Föderation kämpfenden Tschetschenen in die Schuhe schob.

Das Schmierentheater gelang perfekt. Putins Werte stiegen. "Im September 1999 ist meiner Meinung nach der Zeitpunkt, an dem Russland aufhörte, eine Demokratie zu sein. Die Bombenanschläge auf die Moskauer Wohnblöcke waren Putins Sündenfall", so Sweeney. In Tschetschenien führte Putin einen grausamen, brutalen Krieg – all die Bilder, die wir seit Februar 2022 aus der Ukraine kennen, gibt es auch aus Grosny und anderen tschetschenischen Orten.

Genau hier begann die Fehleinschätzung des Westens, der Putin für einen Demokraten halten wollte, weil der dem Kommunismus abgeschworen hatte. Putins Weltsicht aber war sein ganz eigenes Gebräu: "Ultranationalismus, Hass auf andere, Verachtung gegenüber einer freien Presse und Meinungsfreiheit, Intoleranz gegenüber Spott und Humor, zutiefst konservative gesellschaftliche Wertvorstellungen, ein unfreier Markt, der an die politische Macht verpfändet ist, Verehrung für den KGB" – Sweeney nennt Putin einen russischen Faschisten.

Ein Menetekel namens Kursk

Im August 2000 sank das russische Atom-U-Boot Kursk bei einem Militärmanöver in der Barentsee. Die NATO hatte das Wissen und die Ausrüstung, um zu helfen und bot beides sofort an, der Kreml reagierte nicht einmal. Als britische und norwegische Taucher endlich helfen durften, gelang es ihnen, eine Luke des U-Boots zu öffnen – aber es war zu spät. Sie fanden nur noch Tote vor. Sweeney dazu: "Alles um den tragischen Untergang der Kursk wirkt bereits wie ein Fingerzeig auf die Invasion der Ukraine im Jahr 2022 – das völlige Desinteresse des Kremls am eigenen Volk, die marode und veraltete Ausrüstung, die Verachtung für eine ordentliche Untersuchung, das Abwürgen berechtigter Kritik."

Putin zog seine eigene Lehre aus dem Unglück – er zerstörte die freie (und durchaus kritische Presse) und brachte sie unter seine Kontrolle. Er machte den Oligarchen klar: ich lasse euch eure Geschäfte machen, wenn ihr euch nicht einmischt. Einer, der das nicht akzeptieren wollte, war Michail Chodorkowski. Ihm wurde ein Schauprozess gemacht, er wurde gedemütigt und in einem Käfig der russischen Öffentlichkeit vorgeführt, sein Unternehmen Yukos wurde zerschlagen, Chodorkowski musste für Jahre in ein Arbeitslager und verließ Russland danach – heute lebt er in London. Der damals reichste Russe gedemütigt und vorgeführt, die Lektion kam an. Die Oligarchen verstanden: Sie konnten den Großteil ihres Vermögens behalten, solange sie Putin huldigten und ihm genug bezahlten. Das tun sie bis heute.

Das korrupteste System der Welt

Eine kleine Anekdote, die Sweeney erzählt, verdeutlicht, wie ungeheuerlich und wie tiefgreifend die Korruption in Russland alles zerfressen hat. Bekanntlich fanden die Ukrainer in verlassenen russischen Armeefahrzeugen Lebensmittelrationen, deren Haltbarkeitsdatum schon vor mehreren Jahren abgelaufen war. Der makabre Witz dabei: Für die Versorgung der Soldaten ist Putin-Freund Jewgeni Prigoschin zuständig, oft "Putins Koch" genannt. Sein Firmenimperium kontrolliert 90 Prozent der Lebensmittelversorgung der russischen Armee. Der Russland-Kenner Christo Grosew setzte dazu folgenden Tweet ab: "Während die russischen Soldaten hungern und in gestürmten ukrainischen Häusern um Brot betteln, überschwemmen Prigoschins angeblich ‚nicht für den Handel bestimmte Lebensmittelrationen‘ russische Flohmarkt-Portale zum Preis von 3 Dollar pro Dose." Den Namen Prigoschin haben Sie im Krieg gegen die Ukraine mehrfach auch in einem anderen Zusammenhang gehört – Prigoschin gründete nämlich auch die Söldnertruppe Wagner, besonders brutale und unmenschliche Schergen.

Krieg gegen den Westen und nützliche Idioten

Sweeney zitiert Chris Donnelly, einen hochrangigen britischen Militärexperten: "Vom russischen Standpunkt aus sind wir im Krieg mit ihnen. Vom britischen oder westlichen Standpunkt aus sind wir das ganz bestimmt nicht. Und genau darin liegt die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Haltungen und in den Beziehungen beider Seiten." Laut Donnelly kann der Westen diesen Krieg nicht gewinnen, weil er sich gar nicht bewusst ist, dass er Krieg führt. Es gibt keine Kriegsmentalität, in Russland sehr wohl. Und weil das so ist, setzt Russland seine Waffen sehr effektiv ein. Und die Rede ist jetzt nicht nur von Waffen, sondern vom gesamten Arsenal, das einem Staat zur Verfügung steht – Information, Wirtschaft, Internet, Bestechung, Verleumdung, Korruption, Politik, ‚aktive Maßnahmen‘ (Auftragsmorde).  Man kann den Gedanken kaum ertragen, schon vor Februar 2022 im Krieg gewesen zu sein. Vergegenwärtigt man sich dann noch, wie besorgniserregend nahe Putins Russland führenden Köpfen im Westen gekommen ist, kann einem ganz anders werden. Leute wie Ex-Bundeskanzler Schröder seien "nützliche Idioten des Kremls".

Ist also alles hoffnungslos? Nein. "Der letzte Romanov beging einen ähnlichen Fehler wie Putin heute: Er überschätzte die Kampfkraft der russischen Streitkräfte und der Bereitschaft der Zwangsrekrutierten hoffnungslos (…). Nikolaus II. wurde im Juli 1918 mitsamt seiner ganzen Familie in Jekaterinburg erschossen. Ich traue mir die Voraussage zu, dass Putin nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt verbringen wird."

Ob es nach Putin besser wird, weiß natürlich niemand, aber immerhin hat Russland dann die Chance dazu – und mit ihm die Welt.

Weiterführende Links

https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_92355698/suechtiger-im-kreml-putin-wird-nicht-mehr-lange-unter-uns-weilen-.html

https://www.stern.de/gesellschaft/ukraine--zwischen-clowns-und-toten-zivilisten---was-john-sweeney-in-kiew-erlebt-31680142.html

https://www.sheffieldtribune.co.uk/p/john-sweeney-on-reporting-in-sheffield

Prigoschins Einfluss in Deutschland: https://www.youtube.com/watch?v=_rxiD6bq1A4

Untergang der Kursk: https://www.spiegel.de/geschichte/untergang-der-kursk-2000-russlands-tragoedie-putins-bewaehrungsprobe-a-8df7dfea-7b0c-4dc6-a045-5c26c6796859

Putins Palast: https://www.stern.de/politik/ausland/wladimir-putin--einblicke-in-seinen-palast---groessenwahn-in-marmor-und-gold-30011002.html
(Jutta Hamberger)+++

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