Was wir lesen, was wir schauen (66)

Marie Antoinette – die verkannte Königin

Luftbild von Schloss Versailles mit Blick auf den Marmorhof und den Court Royale
© Wikipedia / Toucanwings

02.04.2023 / REGION - "Wenn Sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!" Ist Ihnen dieser Satz gerade in den Sinn gekommen? Verständlich, er dürfte einer der meistzitierten Aussprüche Marie Antoinettes sein, dumm nur, dass sie ihn nie gesagt hat. Es gibt wenige Royals, über die so viele Fake News verbreitet wurden wie über Marie Antoinette.


Königin der Missverständnisse

Über Marie Antoinette sind viele Legenden, Lügen und Halbwahrheiten im Umlauf. Auch die beiden großen Biografien von Antonia Fraser und Stefan Zweig lassen ihr wenig Gerechtigkeit angedeihen. Umso schöner, dass Michaela Lindinger jetzt eine neue Biographie Marie Antoinettes vorgelegt hat, die mit ziemlich vielen Vor- und Fehlurteilen aufräumt. Denn Lindinger versucht, Marie Antoinette aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, reichert das aber an mit unseren heutigen Kenntnissen über die (vor)revolutionäre Zeit in Frankreich. Und sie stellt die weibliche Perspektive der Geschichte immer wieder in den Fokus. Das ist sehr erhellend und durchaus auch provokativ, gerade auch, weil es dazu einlädt, immer wieder Parallelen in die Jetzt-Zeit zu ziehen.

Ihre Karriere begann die zweitjüngste Tochter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia mit 14 Jahren. Da nämlich wurde sie mit dem französischen Thronfolger Louis Auguste, dem späteren Ludwig XVI., verheiratet. Marie Antoinette war auf diese Ehe schlecht vorbereitet, niemand hatte gedacht, dass ihre Vermählung einmal wichtig werden könnte. Sie hatte bei dieser Eheschließung nicht mitzureden, ob ihr der zukünftige Gatte gefiel oder nicht, spielte in den dynastischen Überlegungen keine Rolle. Wie üblich wurden Porträts ausgetauscht, man darf annehmen, dass die genauso geschönt waren wie heutige Social-Media-Posts.

Stümper in Sachen Sex

Am 16. Mai 1770 fand in Versailles die Vermählung mit dem Dauphin statt, natürlich mit aller Prachtentfaltung. Das Paar wird ins königliche Schlafgemach geleitet und vom Reimser Erzbischof gesegnet. Die beiden sollen ihrer dynastischen Pflicht nachkommen und Nachwuchs zeugen. Maria Theresia hatte ihre Tochter im Rahmen des damals Üblichen auf die Pflichten einer Ehefrau vorbereitet, was aber keiner ahnen konnte: Louis Auguste hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Deswegen geschah nichts in dieser Hochzeitsnacht – und auch nicht in vielen Nächten und vielen Jahren danach. Kinderlosigkeit wurde prinzipiell der Frau angelastet. Das war für Marie Antoinette ein Problem, denn ohne Nachwuchs hätte die Ehe jederzeit annulliert werden können. Ihr fehlten die Phantasie und natürlich auch das Wissen, wie sie die sexuell betrüblichen Verhältnisse hätte ändern können.

Lindinger geht davon aus, dass die sexuelle Gehemmtheit des Thronfolgers auf das ausschweifende Leben bei Hof und die vielen Sexskandale rund um Ludwig XV. zurückzuführen ist: "Wer im Schloss von Versailles aufwuchs, war Tag und Nacht von Sexarbeit, Männern, die ihre Frauen betrügen, Frauen, die ihre Männer betrügen, schwulen Höflingen, missbrauchten Stallburschen und Dienstmägden umgeben." Louis Auguste weigerte sich, eine "maitresse-en-tître" zu nehmen, Rollen, die bei Ludwig XV. die Dubarry und die Pompadour ausgefüllt hatten. Nach dem Tod des Königs 1774 verkündete sein Enkel, bei ihm werde es weder Skandale mit Mätressen noch Favoritinnen geben. Es gab aber eben auch keinen ehelichen Verkehr.

Es brauchte 7 Jahre, und einen Besuch von Marie Antoinettes Bruder, Kaiser Joseph II., der dem Ehepaar in drastischen Worten erklärte, wie Beischlaf ging. In einem an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Brief an seinen Bruder Leopold beschrieb Joseph II., was bei den beiden alles falsch lief, der Brief gipfelt in dem Satz: "Zu zweit sie sind doppelt so ungeschickt. Welche Stümper!" Die brüderliche Nachhilfe half, 1778 endlich war die Königin schwanger, sie brachte eine Tochter zur Welt, 1781 folgte der heiß ersehnte Dauphin.

Influencerin und Mode-Ikone

Anfangs sind die Pariser schockverliebt in ihre künftige Königin. Lindinger spricht von den "Diana-Momenten" im Leben Marie Antoinettes. Da aber ihr Eheleben so trist war, suchte Marie Antoinette nach Ablenkung. Sie liebte Mode, sie feierte gern. Sie besuchte Bälle, tanzte ganze Nächte durch. Sie verliebte sich in den schwedischen Grafen von Fersen, ein Bild von einem Mann. All das wird zunehmend misstrauischer beäugt, die Zuneigung schwindet, die Kritik an Marie Antoinette wächst. Die selbst bekommt davon wenig mit, denn wie der gesamte französische Hof war auch sie maximal weit entfernt vom Leben des Volkes und dessen Problemen.

Für den Adel wurde Marie Antoinette zur Mode-Ikone, was sie trug, ging um die Welt. Zentral für ihr Erscheinungsbild waren zwei Bürgerliche – ein Skandal im absolutistischen Frankreich!, der Theaterfriseur Léonard-Alexis Autier und die Modistin Rose Bertin. Die Frisuren dauerten Stunden. Alles, was die die Öffentlichkeit beschäftigte, wurde darin in Szene gesetzt – von der Pockenimpfung bis zur Aufführung von Glucks "Iphigenie". Rose Bertin, die einflussreichste Modemacherin des 18. Jh., stellte der Königin zweimal wöchentlich ihre neuesten Kreationen vor und konferierte stundenlang mit ihrer wichtigsten Kundin.

Auch in Sachen Porträts ging Marie Antoinette neue Wege. Sie ließ sich von Élizabeth Vigée-Lebrun porträtieren, die sogar im aufgeklärten Paris als Exzentrikerin galt. Das Porträt der Königin im durchsichtigen Unterkleid sorgte für einen Skandal, denn es zeigte eine hübsche Frau aus bessergestellten Kreisen, noch dazu ohne alle royalen Insignien. Der Kontrast zu den üblichen königlichen Porträts hätte stärker nicht ausfallen können.

Endgültig ruiniert

In Frankreich gärte es immer stärker. Die politischen Implikationen der neuen Strömungen ignorierte Marie Antoinette, sie griff sich nur das heraus, was sie interessierte, etwa gefühlige Romane wie Rousseaus "Julie oder die neue Heloise", Glucks Opern oder die Skandalstücke von Beaumarchais. Sie stillte ihre Kinder selbst und führte neue Hygienemaßnahmen ein. Sie gab sich der Empfindsamkeit hin – dem Woke-Schlagwort jener Zeit – in ihrem Lustschloss Trianon spielte sie Landleben.

Das Königspaar ignorierte, dass sich die öffentliche Meinung immer stärker gegen sie wandte. Die Halsbandaffäre 1785, an der Marie Antoinette allerdings völlig unschuldig war, ruinierte ihren Ruf endgültig. Nun war kein Halten mehr, von Ehebruch über Lesbentum, Inzest und Nymphomanie gab es nichts, dessen Marie Antoinette nicht beschuldigt worden wäre. Man beschuldigte sie, als "Madame Déficit" mit ihrer Prunksucht die französischen Staatsfinanzen zu ruinieren. Daran trug allerdings nicht sie, sondern die falsche Außenpolitik und die Unfähigkeit des Landes zu einer Finanzreform die Schuld.

Aber um wahre Geschichten ging es schon lange nicht mehr, sondern um saftige. Nicht mehr der Hof setzte die Themen, nach der Aufklärung gab es eine andere Art von Öffentlichkeit, mit Medien und Propaganda aller Art. Und diese Öffentlichkeit fällte ein unbarmherziges Urteil: Ludwig XVI. wurde am 21. Januar 1793 hingerichtet, am 16. Oktober des gleichen Jahres seine Frau. Ausgleichende Gerechtigkeit: Die Guillotine erwischte später auch die meisten der Revolutionäre, die das Königspaar hatte hinrichten lassen. (Jutta Hamberger) +++

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