Was wir lesen, was wir schauen (95)

M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte am U-Bahnhof Berlin Westhafen
© Wikipedia/Molgreen CC BY-SA 4.0

16.06.2024 / FULDA - Stellen Sie sich eine Welt vor, die das Schlechteste aus allen Diktaturen und Schreckensherrschaften kombiniert. Eine patriarchale, theokratische Militärdiktatur. Das Auslöschen der Intelligenzia. Ausgeklügelte Lagersysteme zur Umerziehung und Bestrafung. Scharia-gleiche Strafen bei kleinsten Vergehen. Die unerbittliche Verfolgung von Schwulen und Lesben. Und überhaupt die Entrechtung von Frauen.



The Land of the brave – ein Horror-Szenario

Klingt unglaubwürdig? Nun ja, das alles gibt es in unserer Welt. Besonders hervor tun sich dabei Länder, die ein starr konservatives Welt- und Familienbild haben und in dem Frauenrechte erst gar nicht vorkommen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen fehlenden Frauenrechten und fehlender Entwicklung: Länder mit unterentwickelten Frauenrechten sind sowohl politisch als auch wirtschaftlich deutlich schwächer entwickelt als Länder, die Gleichberechtigung (weitgehend) umsetzen. Für Machos ist dieser Zusammenhang nur schwer erträglich: Je besser Frauen sich in eine Gesellschaft einbringen können, desto besser für alle (!) in der Gesellschaft.

Reisen wir also nach Gilead, jenem Land, das nach Bürgerkrieg, Terror und innerlichem Zerfall von den USA übriggeblieben ist – hier spielt Margaret Atwoods dystopischer Roman aus dem Jahr 1985. Inzwischen ist so viel passiert, was wir nicht für möglich gehalten hätten: Donald Tump. Der wachsende Einfluss der ultrakonservativen Evangelikalen in den USA – statt der Verfassung soll die Bibel gelten. Die Zensur von Büchern, die sich mit Themen befassen, die stramm rechte, weiße Amerikaner als unangenehm empfinden – sie werden zunehmend aus US-Schulbibliotheken entfernt. Nach seinem Rechtsruck hat der US Supreme Court das Grundsatz-Urteil Roe vs. Wade gekippt. Ach ja, und wenn es ganz dumm läuft, wird Trump nochmal ins Weiße Haus einziehen.

Schlimm? In Gilead ist alles noch schlimmer. Durch Klima- und Umweltkatastrophen ist die Welt am Ende, die Menschen sind durch Bakterien oder Radioaktivität verseucht. Die Folge davon ist zunehmende Sterilität – die Menschheit droht auszusterben. Eine fundamentalistisch-christliche Gruppe erobert durch einen Staatsstreich die Macht, setzt die Verfassung außer Kraft und führt das Militärrecht ein. Das Ganze garniert sie mit kruden Glaubenssätzen, die aus biblischen Versatzstücken bestehen. Nichts an dem neuen Regime ist christlich, es ist zutiefst faschistisch. Von Ferne klingt das "Heil Hitler" der NS-Zeit an, wenn man sich mit "Gesegnet sei die Frucht" begrüßt. Von der NS-Zeit inspiriert sind auch die Rituale Gileads wie z.B. die Betvaganza als Weiheveranstaltung für neue Mägde oder die Partizikution (im Deutschen Errettung genannt), bei der die Mägde gemeinsam Sünder:innen öffentlichkeitswirksam töten.

Beschränkte Verhältnisse in Gilead

Zensur, Straßensperren, immer mehr und neue Regeln und Kontrollen sind Alltag in Gilead. Bestimmte Worte sind verboten. Die Menschen werden in starre Kategorien eingeteilt und durch jeweils spezifische Kleidung gekennzeichnet: Wächter (Militär). Kommandanten (Regierung). Augen (Spione). Ehefrauen. Mägde (werden für die Fortpflanzung gebraucht). Marthas (Dienstboten). Tanten (Aufseherinnen). Ökonos (einfache Arbeiterinnen). Unfrauen (Zwangsarbeiterinnen). Jesebels (Huren).

"Die Verhältnisse sind beschränkt worden", heißt es im Roman. Für alle, besonders drastisch aber für die Frauen. Sie dürfen nicht mehr berufstätig sein, kein Eigentum besitzen, nicht lesen, nicht schreiben. Sie müssen sich dem nächsten männlichen Anverwandten unterordnen und sich aus den Geschäften des Staates heraushalten. Ihr Wirkungskreis ist das Zuhause. Und sie sollen Kinder gebären. Nichts davon geschah schlagartig, sondern alles nach und nach, fast unmerklich. Auch das sollte uns zu denken geben.

Wie in allen Diktaturen gibt es eine Gruppe von Menschen, die weiterhin mehr Rechte genießt – die Männer. Sie dürfen alles, inklusive Frauen schlagen, peinigen und töten, ohne dass dies Konsequenzen für sie hätte. Für sie gibt’s weiterhin ‚Clubs‘, vulgo Bordelle, die sie straffrei aufsuchen können. Sie können lesen, was sie wollen, Musik hören, trinken – was Frauen verwehrt ist. Das Perfide an diesem System ist, dass es deshalb so gut funktioniert, weil es die Frauen instrumentalisiert. Sie alle spielen das Spiel auf den verschiedenen Macht-Ebenen mit – indem sie andere Frauen unterdrücken. Jeder ein klitzekleines Stückchen Macht und Rache. Es dauert, bis einigen dämmert, dass die Rettung im gemeinsamen Agieren liegen könnte.

Desfreds Geschichte

Die Geschichte wird aus der Perspektive der Magd Desfred – im Original heißt sie Offred – erzählt. Sie ist Magd im Haus des Kommandanten Waterford. Dessen Frau ist unfruchtbar, Desfred soll ihm ein Kind gebären. Das monatliche Zeremoniell an den fruchtbaren Tagen Desfreds ist kaum zu ertragen: In einer kruden Kopie der Geschichte von Jakob, Rachel und Bilha muss die Ehefrau sich vollständig bekleidet auf das Ehebett legen, zwischen ihren Beinen liegt die ebenfalls völlig bekleidete Magd, die dann vom Ehemann begattet wird. Berührungen sind verboten, Spaß machen darf gar nichts, Erregung und Orgasmus hält man für überflüssig, es geht einzig um die Besamung. Diese Zeremonielle finden nur bei den Kommandanten statt, der höchsten Kaste Gileads. Sie bekommen bei Bedarf eine Magd zu Kinderzeugen zugeteilt. Wird die nicht schwanger, ist es selbstverständlich ihre Schuld.

Lesen oder schauen?

Der Roman ist hellsichtig und unangenehm, seine Aktualität ist ungebrochen. Was eine religiöse Diktatur bedeutet, bekommt man hier ungeschönt vorgeführt. Natürlich wurde der Roman auch verfilmt. Die Serie (Amazon Prime, DVD) ist atemberaubend gut, vor allem die beiden ersten Staffeln, auch, weil sie im Roman nur angedeutete Handlungsstränge weitererzählen. Die erste Staffel wurde mit fünf Emmys, dem wichtigsten amerikanischen Fernsehpreis, ausgezeichnet, inzwischen gibt es fünf Staffeln.

Atwoods Roman gibt es auch als Kinofilm – Volker Schlöndorff verfilmte ihn 1990 als "Geschichte der Dienerin". Der Film überzeugte nicht alle, vielen war er in Teilen zu unentschlossen und zu zaghaft. Hellmuth Karasek fand, der Film richte "seinen Blick nur scheinbar in eine weite Zukunft. Wer sehen will, wird es nicht schwer haben, einen Blick auf heute herrschende Verhältnisse zu riskieren." Da hat er leider recht.
(Jutta Hamberger)+++

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