Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Fotos: © DVA
05.11.2023 / FULDA -
2002 erschien "Mein verwundetes Herz", Doerrys bewegendes Buch über seine Großmutter Lilli Jahn. Sie war Jüdin, eine kulturbegeisterte, lebensfrohe Ärztin und liebevolle Mutter. Ihr (christlicher) Ehemann ließ sich 1942 von ihr scheiden, um seine schwangere Geliebte zu heiraten. Damit war Lillis Weg in den Tod vorgezeichnet, sie wurde verhaftet, ins Arbeitserziehungslager Breitenau und von dort nach Auschwitz deportiert, wo sie 1944 ermordet wurde.
Ein Schicksal wie Tausende
Das "feine Schweigen" im Nachkriegsdeutschland
Ilse schweigt noch zu viel mehr. Als Ehefrau eines Richters muss sie regelmäßig repräsentative Pflichten übernehmen und begegnet dabei immer wieder Nationalsozialisten, die nach Kriegsende ihre juristische Karriere bruchlos weiterführen konnten. Man darf nicht vergessen: Ungefähr 90 Prozent der westdeutschen Richter waren damals ehemalige Nationalsozialisten. Auch dazu schweigt Ilse. Sie hat gelernt: Auffallen kann tödlich sein, also passt sie sich bis zur Selbstaufgabe an. Die Angst bleibt – jeder ältere Mann, dem sie begegnet, könnte ein Täter sein, könnte an der Ermordung ihrer Mutter beteiligt gewesen sein.
Ilse schweigt 40 Jahre lang. Sie schweigt bis zur Veröffentlichung von "Mein verwundetes Herz", erst dann begreift sie die Biographie ihrer Mutter als Auftrag und Mission. Mit ihrem Sohn Martin reist sie fortan zu Lesungen durch Deutschland, aber auch durch England und Israel. Erst jetzt spricht sie mit ihren Kindern über das, was im Krieg geschehen war. Doerry zitiert den Historiker Fritz Stern, der vom "feinen Schweigen" gesprochen hatte, mit dem die deutsche Nachkriegsgesellschaft die Täter beschützte. Es war ein Schweigen, das aber auch viele Opfer und deren Nachkommen wahrten, um so die Erinnerungen an die furchtbare Zeit zu verdrängen.
Misslungene Emanzipation
Der Antisemitismus ist nicht verschwunden
Was macht all das mit einem Menschen? Doerry spricht vom "beschädigten Leben" seiner Mutter, das einerseits durch die frühen Verlusterfahrungen geprägt gewesen sei, andererseits aber auch durch die permanenten Erfahrungen mit offenem oder latentem Antisemitismus – mit hingeworfenen Bemerkungen, rassistischen Witzen oder offener Ablehnung. Als Halbjüdin war Ilse eine Außenseiterin.
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