Was wir lesen, was wir schauen (125)
Andreas Steinhövel, Oskar, Rico und die Tieferschatten - Vom anders sein
Foto: Wikipedia / Roehrensee, CC BY-SA 3.0
07.09.2025 / FULDA -
"Ein bisschen beneide ich jeden, der bisher noch keine Bekanntschaft mit Rico und Oskar gemacht hat und alle Bände ganz neu entdecken kann". Das schrieb ZEIT-Redakteurin Katrin Hörnlein über Steinhövels Oskar-und-Rico-Reihe, als 2020 der letzte Band erschien. Recht hat sie. Deshalb: Sollten Sie Rico und Oskar noch nicht kennen, legen Sie am besten gleich heute los.
Ein Meister des Disney-Prinzips
Verwechseln Sie jetzt aber bitte nicht unterhaltsam mit seicht. Unterhaltsam kann man mühelos mit heißen Eisen kombinieren. In der Rico-Oskar-Reihe geht es um Kinder, die Außenseiter sind, weit weg von perfekten Kindern, Überfliegern und Mainstream. In einem Interview mit dem Spiegel (16.02.2020) sagte Steinhövel dazu: "Ich mag Außenseiter. Man wird stärker, wenn man etwas durchmacht, aber das sagt sich schön und gilt nur für das Ende. Wenn man mittendrin steckt, ist das ein blöder Rat. Vielleicht hilft das: Fast jeder denkt, er gehöre nicht dazu. Jeder hat einen Teil in sich, der sich von den anderen unterscheidet."
Wir sind hier nicht im postmateriellen oder gutbürgerlichen Wohlfühl-Milieu, sondern bekommen es mit Familien zu tun, für die das Leben harte Arbeit bedeutet und die alle ihr Päckchen an Problemen mit sich rumtragen. Ricos Mutter liebt ihren Sohn über alles, vergisst darüber aber nicht, auch an ihr eigenes Leben zu denken, in dem ein Partner fehlt. Nachbarin Frau Dahling, die als Fleischfachverkäuferin an der Kühltheke arbeitet, nimmt sich immer Zeit für Rico, der bei ihr Filme und Serien gucken darf und mit leckeren Müffelchen belohnt wird. Nicht gerade gängige Freunde- oder Familien-Konstellationen! Rico und Oskar klären den Entführungsfall um den ALDI-Entführer "Mister 2000" auf und stoßen dabei an ihre jeweiligen Grenzen. Sie merken aber auch, dass sie gemeinsam stärker sind als allein – das Fundament ihrer Freundschaft.
Wahrscheinlich kann Steinhövel es nicht mehr hören, aber es ist und bleibt halt trotzdem wahr: Er ist der wahre Erbe Kästners. Nicht so sehr, weil auch er seine Geschichten in Berlin ansiedelt, sondern weil er etwas tut, das auch typisch Kästner ist – Kindern eine literarische Stimme geben, Kinder ernst nehmen, auf Augenhöhe mit ihnen erzählen. Steinhövel bevormundet nicht, ist kein Besserwisser, er bleibt die ganze Geschichte hindurch in der Perspektive der Kinder. Und das wird nicht eben leichter, wenn das eine Kind ‚behindert‘ ist, ein Wort, das Rico selbst für sich als beleidigend ablehnt. Sein Anderssein ist keine Behinderung, er kommt eben anders zum Ziel als andere. "Tiefbegabt" heißt auch, langsamer und mit Umwegen. Rico ist – trotz oder wegen seiner ‚Behinderung‘ – selbstbewusst. Er weiß, was er nicht so gut kann, findet aber, das ist nicht sein Problem, sondern das seiner Umgebung. Erfrischender kann man es eigentlich nicht sagen. Und: Rico fallen zwar immer mal Sachen aus dem Kopf, wie er selbst es nennt, aber er ist ein großartiger Erzähler und sehr genauer Beobachter.
Wie Peter Schössow Rico und Oskar ein Gesicht gegeben hat, lässt leise und von fern ebenfalls Kästner erklingen. Ein sparsamer Strich, der mit wenigen Linien Persönlichkeiten schafft. Legen Sie mal "Emil und die Detektive" neben "Rico, Oskar und die Tieferschatten". Schössow und Walter Trier, Kästner und Steinhövel sind Brüder im Geiste.
Sprachspielereien
Rico macht Fehler, tappt in ziemlich viele Fettnäpfchen und versteht die Welt oft nicht. Deshalb führt er ein eigenes Wörterbuch, in dem er sich komische Begriffe auf Rico-Weise erklärt, z.B. Schwerkraft: "Wenn was schwerer ist als man selbst, zieht es einen an. Zum Beispiel ist die Erde schwerer als so ziemlich alles, deshalb fällt keiner von ihr runter. Entdeckt hat die Schwerkraft ein Mann namens Isaac Newton. Sie ist gefährlich für Busen und Äpfel. Womöglich auch noch für andere runde Sachen."
Steinhövels Bücher machen Menschen Freude, die Sprache in all ihren Ausprägungen lieben. Er erfindet Wörter, gibt ihnen neue Bedeutungen, verknüpft sie anders – allein schon deswegen ist es ein Genuss, Rico/Oskar zu lesen. Zum Schluss zitiere ich nochmals Andreas Steinhövel, diesmal aus seiner Dresdner Rede, gehalten am 22. Februar 2015: "Kein Buch kann uns das Leben abnehmen. Da muss jeder von uns durch, ganz ohne Baedeker."
Weiterführende Links
https://www.spiegel.de/deinspiegel/andreas-steinhoefel-autor-von-rico-und-oskar-im-interview-ich-mag-aussenseiter-a-0fcf0b76-3710-445c-bcd9-80031e74cb1c
Steinhövels Dresdner Rede (2015) über Kinderbücher: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/download/10580/dresdner_rede_andreas_steinhoefel_22022018.pdf
Besuch bei Peter Schössow: https://www.youtube.com/watch?v=6AUI6EPBL7Y
Kritik und Trailer zur Verfilmung: https://www.abendzeitung-nuernberg.com/rico-oskar-und-die-tieferschatten/
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