Was wir lesen, was wir schauen (120)
Thomas Mann, Der Zauberberg - Verneigung vor dem Zauberer
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22.06.2025 / FULDA -
Am 06. Juni feierte die literarische Welt Thomas Manns 150. Geburtstag, und in diesem Jahr wird sein komplexester und schönster Roman "Der Zauberberg" 101 Jahre alt. Der Roman ist die Bekehrungsgeschichte Thomas Manns vom Royalisten und Nationalisten zum Demokraten. Und er ist, wie Mann im Princeton-Vorwort zum Roman schreibt, eine Untersuchung über "die europäische Seelenverfassung und geistige Problematik" zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das große Thema des "Zauberberg" ist die Orientierungslosigkeit und Zerrissenheit des Menschen. Moderner geht es auch für das Jahr 2025 nicht.
Der "Zauberberg" war nicht meine erste Begegnung mit Thomas Mann, aber eine meiner intensivsten. So intensiv wie die mit "Tod in Venedig". Die Zuneigung kommt nicht von ungefähr, Thomas Mann sah den Roman als heiter-ironisches Gegenstück zu seiner Erzählung. Der Roman ist ein Epochenporträt, ein eigener europäischer Mikrokosmos der Vorkriegszeit. Es gibt einen schlechten Russentisch (und einen guten), eine ältere Dame, die nur "Tous les deux" genannt wird (weil beide Söhne tödlich erkrankt sind), Hermine Kleefeld mit ihrem pfeifenden Pneumothorax oder Karoline Stöhr, die eine wandelnde Enzyklopädie falsch verwendeter Redewendungen und Fachbegriffe ist. Fräulein Engelhart, von schlaffer Gesundheit, "fiebrig und innerlich wurmstichig", ist Castorps Tischgenossin. Nicht zu vergessen der soldatische, ehrliche Joachim Ziemßen, den es schmerzt, dass er krankheitsbedingt seine vaterländische Pflicht nicht erfüllen kann.
Hans Castorp, der als braver Kaufmannssohn auf dem Zauberberg ankommt und dort nur kurz zu Besuch bleiben will, bleibt schlussendlich sieben Jahre. Denn der morbiden Faszination des Bergs und des Sanatoriums kann er sich nicht entziehen. Bald ist er drin in den Routinen auf dem Berg – vom gekonnten Einwickeln in die Decke, damit man die vorgeschriebene Liegepause auf dem Balkon ohne Erfrierungen übersteht, bis zu den Mahlzeiten und Arztbesuchen. Der Tagesablauf hat für Castorp bald etwas wie "heilig-selbstverständliche Unverbrüchlichkeit".
Thomas Mann hat Hans Castorp als Gralssucher bezeichnet und damit als kleinen Bruder Parzivals. Er trägt den Allerweltsnamen Hans, er ist in allem mittelmäßig und verkörpert das deutsche Bürgertum, das sich irgendwie zwischen und mit allem zu arrangieren versucht. Aber dieser Hans bricht auf aus dem Vertrauten in die magische Welt des Zauberbergs und trifft dort Mentoren, Freunde, Förderer und Hindernisse – rein formal handelt es sich also um eine coming-of-age-Geschichte. Thomas Mann nennt seinen Roman einen "Initiationsroman", in dem Castorp durch den notwendigen Durchgang durch Krankheit und Tod zum Wissen gelange und letztlich zum Leben. Der Literaturwissenschaftler Kai Sina schrieb, man lerne aus dem "Zauberberg" mehr über unsere Gegenwart als in der gegenwärtigen Literatur, weil "uns vor Augen geführt wird, warum wir das moderne Leben so ungemein schätzen. Wir genießen seine Vorzüge und profitieren von seinen Innovationen (…). Andererseits verdeutlicht Manns Werk, warum man an diesem modernen Leben verzweifeln kann und sich nach angeblich einfacheren, weniger fordernden Zeiten zurücksehnen mag. Kein Roman der Gegenwart zeigt mir diese tiefe und zugleich unaufhebbare Ambivalenz auf so eindringliche Weise". Nach der erneuten Lektüre kann ich das nur bestätigen.
Die Abgründe des 20. Jahrhunderts waren vor 100 Jahren nicht überbrückt, und die Vielstimmigkeit von Kulturen, Denkschulen und Weltanschauungen hat im 21. Jahrhundert eher noch zugenommen. Offene Gesellschaften sind zwar belohnender, aber auch anstrengender als geschlossene. Deshalb werden sie von Populisten abgelehnt oder bis aufs Blut bekämpft. Auch davon handelt der "Zauberberg". Die Krankenwelt im Davoser Sanatorium hat Thomas Mann als "Lebensersatz" beschrieben, die "von einspinnender Kraft und Geschlossenheit" sei und "junge Menschen in relativ kurzer Zeit dem wirklichen, aktiven Leben vollkommen entfremdet". Der Grund dafür ist die "alchimistische Steigerung", die Hans Castorp auf dem Berg erfährt. Auch wir kennen die, und zwar aus unseren Bubbles in den Sozialen Medien. Setzen Sie statt ‚Krankenwelt‘ den Begriff Social Media ein, vergleichen Sie die Hauptfiguren des Romans und ihre Weltsichten mit einigen Verführern oder sogenannten Influencern von heute, dann verstehen Sie die Dimension und Bedeutung dieses Romans für unser Jahrhundert sofort.
Würde Thomas Mann heute unter uns weilen, er sähe sich wohl genötigt, erneut "Reden an die deutschen Hörer" zu verfassen – denn Haltung und Humanismus sind heute erneut großen Gefahren ausgesetzt. Das ist der Schluss seines Princeton-Vorworts zum Roman: "Der Gral, den Castorp wenn nicht findet, so doch im todesnahen Traum erahnt, (…) das ist die Idee des Menschen, die Konzeption einer zukünftigen, durch tiefstes Wissen um Krankheit und Tod hindurchgegangenen Humanität. Der Gral ist das Geheimnis, aber auch die Humanität ist das. Denn der Mensch selbst ist ein Geheimnis, und alle Humanität beruht auf Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen."
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