Was wir lesen, was wir schauen (131)

Kälte, die sich im Kopf ausbreitet

Die Sprungschanze am Holmenkollen – hier kommt es im Roman zum Showdon
Fotos: Wikipedia / John Christian Fjellestad

23.11.2025 / FULDA - Es gibt Kriminalromane, in denen man zu wandern beginnt – durch eine Landschaft, die mit jedem Schritt unheimlicher wird. "Der Schneemann", der siebte Band in Jo Nesbøs Harry-Hole-Reihe, ist so ein Roman. Er will dieses leise Frösteln, das dann bis zum Schluss und noch lange darüber hinaus nicht mehr weicht.



Verzweifelte Liebe

Der Roman beginnt mit einer Rückblende ins Jahr 1980. Reagan hat gerade Carter im US-amerikanischen Wahlkampf besiegt. Sara Kvinesland sucht im ersten Novemberschnee des Jahres nochmals ihren Geliebten auf, für einen letzten, schnellen Liebesakt – ihr Sohn wartet derweil draußen im Auto auf sie. Der Geliebte hat in einem anderen Landesteil eine Stelle angenommen. Der letzte Sex ist vom Abschied überschattet: "Die Magie war erloschen, die Spannung verschwunden, einzig ihre Verzweiflung war geblieben. Sie verlor ihn. All die Jahre der Sehnsucht, all die Tränen, die sie vergossen hatte, all die Verzweiflungstage, die sie um seinetwillen begangen hatte. Und er hatte ihr niemals etwas zurückgegeben." Er meint plötzlich, vor dem Fenster ein Gesicht gesehen zu haben. Einen Schneemann, stellt sich heraus. Einen Schneemann? Den hat auch Saras Sohn gesehen. "Wir werden sterben", sagt er ihr.

Ein Kommissar als Suchender

Im zweiten Kapitel sind wir in der Gegenwart des Novembers 2004 angekommen – und bei Hauptkommissar Harry Holt vom Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen. Mit wenigen Pinselstrichen zeichnet Nesbø diesen Harry: 40 Jahre alt, Alkoholiker, von Alpträumen geplagt, in einer spartanisch eingerichteten Wohnung hausend, die von einem Schimmelpilz befallen ist.

Wir nehmen an einer Dienstbesprechung teil. Morde liegen keine an, nur eine verschwundene Hausfrau und Mutter, die aber auch schon seit einem Jahr weg ist. Neu im Team ist Katrine Bratt, sie kommt aus Bergen: "Sein erster Eindruck von ihr war positiv, aber man musste mit allem rechnen. Harry war immer bereit, seinen Mitmenschen eine Chance einzuräumen, auf der Schwarzen Liste zu landen."

Szenenwechsel – ein Haus in Oslo, ein Ehepaar und ihr Sohn Jonas. Die Frau freut sich, dass Mann und Sohn einen Schneemann gebaut haben, was beide aber verneinen. Noch viel verwunderlicher aber ist, dass der Schneemann nicht zur Straße blickt, sondern zum Haus hin. Und einen Tag später trägt er den rosa Schal von Jonas‘ Mutter. Genau in diesem Moment kippt etwas in diesem Roman. Die kunstvolle Szene zeigt, dass die bedrohten Familien in diesem Roman nicht verstehen, wie groß die Gefahr für sie ist, die bereits vor ihrer Haustür lauert.

Der Fall ist perfide: Es verschwinden Mütter. Sie hinterlassen Familien, deren Leben über Nacht in Splitter zerfällt. Harry erkennt diese Linien mit der für ihn typischen Mischung aus analytischer Schärfe und persönlichem Chaos. Nesbø zeigt ihn hier an einer entscheidenden Schwelle der Reihe: er ist nicht mehr der idealistische Ermittler der ersten Bände, aber auch noch nicht der abgekämpfte, vollends desillusionierte Mann späterer Romane. Hier ist Harry Holt ein Suchender, der noch Hoffnung auf eine Form von Ordnung hat, auch wenn er tief im Inneren weiß, dass sie ihm entgleitet. In den späteren Bänden kommt dann der Absturz, aber hier hält Hole sich noch auf dem schmalen Grat: gefährdet, aber klar, verloren, aber wach.

Der Schneemann als Symbol

Der Schneemann, diese eigentlich harmlose Figur der Kindheit, wird bei Nesbø zum stummen Zeugen einer Wahrheit, die keiner sehen will. Seine starre Präsenz wirkt wie ein Fremdkörper in der Ordnung der Welt, ein Zeichen dafür, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist, lange bevor jemand das Offensichtliche ausspricht: Hier ist kein Zufall am Werk, sondern ein Muster.

Der Schneemann steht da, wo Kinder lachen sollten. Er blickt dorthin, wo er nichts zu suchen hat. Er taucht auf, wenn jemand verschwindet. Er ist ein stiller Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Schweigen. Dass er auch von Kindern gesehen wird, macht die Sache nur unheimlicher: Wer die Kindheit bedroht, bedroht die Ordnung der Welt und rührt an ihre Grundfesten. Das macht ihn zu einer Figur, die mehr trägt als nur die Handlung. Er ist das seismografische Gerät, das aufzeichnet, was unter der Oberfläche dieses Landes gärt: kaputte Familien, schweigende Väter, zerschnittene Lebenswege. Nur Harry nimmt diese Erschütterungen wahr.

Klare Linien im kalten Licht

Nesbø schreibt im "Schneemann" knapp, unprätentiös, mit fast chirurgisch wirkenden Präzision. Er braucht keine Sprachgirlanden, keine überlangen Innenmonologe oder Adjektivtürme. Er setzt wenige Striche – und man sieht die ganze Szene. Als würde er Oslo und die Menschen in der Stadt mit einem Skalpell freilegen. Die Gewalt kommt nicht als Spektakel daher, sondern als Konsequenz. Was erschüttert, ist nicht das Explizite, sondern immer der kurze Moment davor: das Schweigen, die Ungewissheit, der Schnee, der jede Spur schluckt.

Im "Schneemann" ist Stille der vorherrschende Klang. Nesbø entscheidet sich bewusst gegen eine klangliche Signatur. Er komponiert stattdessen mit dieser Geräuschlosigkeit: dem gedämpften Fall der Flocken, dem leisen Knirschen, wenn jemand über vereisten Boden geht, der Atemluft, die sich im Frost auflöst. Es ist ein Roman, der nicht klingt – sondern hallt.

Oslo als Resonanzraum

Nesbø macht Oslo zur heimlichen zweiten Hauptfigur des Romans und zu einem Resonanzraum. So ist das Hauptquartier der Polizei in Grønland der Ort, an dem Harrys Professionalität gezeigt wird – durch sein eigenes Agieren, aber auch durch die Erinnerungen oder Aussagen seiner Kollegen. Seine Wohnung in Sofienberg/ Grünerløkka spiegelt dagegen seinen inneren Zustand –sie zeigt Holes Zerrissenheit und innere Erosion. Hier ist nichts heimelig, hier lebt oder überlebt man.

Der Akerselva, der Fluss, der durch Oslo fließt, wird immer wieder zu einem atmosphärischen Knotenpunkt. Das Krankenhaus ist ein Ort des Wissens, v.a. aber auch des Verdrängens und der familiären Enthüllungen. Hier sind die Protagonisten immer zwischen Hoffnung und Abgrund. Oslos teure Gegenden wie Frogner, Skillebeck oder Ullevål Hageby stehen für die bürgerlichen Fassaden, hinter denen sich unfassbar Grausames abspielt. Nesbø unterwandert gnadenlos jede Idylle. Und der Holmenkollen, an dem das dramatische Finale spielt, ist ein mythischer Ort für sich – weit oben, mit Überblick, mit Macht, mit Perspektive – was aber alles auch in die Irre leiten kann.

Die Kraft des Unausgesprochenen

Während die Ermittlungen sich zuspitzen, wechselt der Roman immer wieder in die Perspektiven anderer Figuren. Nesbø nutzt das wie Stroboskoplicht: Der Leser sieht etwas – und im nächsten Moment ist es weg. Diese Technik verstärkt das Thema der unsichtbaren Fäden, die alle Beteiligten verbinden. Und irgendwann versteht man: Es geht hier nicht nur um einen Serienmörder. Es geht um das Schweigen und Verschweigen in Familien, um falsche Loyalität, um Kinder, die nicht die Väter bekommen haben, die sie verdient hätten. In Nesbøs Roman geht es um Familien, die zerbrechen und um Gewalt, die ein nie wieder zu vergessendes Erbe hinterlässt.

"Der Schneemann" ist ein Roman über Blindheiten – private, gesellschaftliche, strukturelle. Über das, was man nicht wissen will, obwohl es längst vor einem steht. Wer Nesbø noch nicht kennt, versteht nach diesem Buch, warum sein Name auch international so schwer wiegt. Wer Harry Hole schon lange folgt, erlebt hier den Beginn jener emotionalen Erosion, die spätere Bände so düster macht. Vielleicht das Unheimlichste an diesem Roman: Er hört nicht auf, wenn man auf der letzten Seite angekommen ist. Er bleibt – wie ein Schneemann, den niemand gebaut hat. (Jutta Hamberger)+++

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