Was wir lesen, was wir schauen (131)
Kälte, die sich im Kopf ausbreitet
Fotos: Wikipedia / John Christian Fjellestad
23.11.2025 / FULDA -
Es gibt Kriminalromane, in denen man zu wandern beginnt – durch eine Landschaft, die mit jedem Schritt unheimlicher wird. "Der Schneemann", der siebte Band in Jo Nesbøs Harry-Hole-Reihe, ist so ein Roman. Er will dieses leise Frösteln, das dann bis zum Schluss und noch lange darüber hinaus nicht mehr weicht.
Verzweifelte Liebe
Im zweiten Kapitel sind wir in der Gegenwart des Novembers 2004 angekommen – und bei Hauptkommissar Harry Holt vom Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen. Mit wenigen Pinselstrichen zeichnet Nesbø diesen Harry: 40 Jahre alt, Alkoholiker, von Alpträumen geplagt, in einer spartanisch eingerichteten Wohnung hausend, die von einem Schimmelpilz befallen ist.
Der Fall ist perfide: Es verschwinden Mütter. Sie hinterlassen Familien, deren Leben über Nacht in Splitter zerfällt. Harry erkennt diese Linien mit der für ihn typischen Mischung aus analytischer Schärfe und persönlichem Chaos. Nesbø zeigt ihn hier an einer entscheidenden Schwelle der Reihe: er ist nicht mehr der idealistische Ermittler der ersten Bände, aber auch noch nicht der abgekämpfte, vollends desillusionierte Mann späterer Romane. Hier ist Harry Holt ein Suchender, der noch Hoffnung auf eine Form von Ordnung hat, auch wenn er tief im Inneren weiß, dass sie ihm entgleitet. In den späteren Bänden kommt dann der Absturz, aber hier hält Hole sich noch auf dem schmalen Grat: gefährdet, aber klar, verloren, aber wach.
Der Schneemann, diese eigentlich harmlose Figur der Kindheit, wird bei Nesbø zum stummen Zeugen einer Wahrheit, die keiner sehen will. Seine starre Präsenz wirkt wie ein Fremdkörper in der Ordnung der Welt, ein Zeichen dafür, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist, lange bevor jemand das Offensichtliche ausspricht: Hier ist kein Zufall am Werk, sondern ein Muster.
Der Schneemann steht da, wo Kinder lachen sollten. Er blickt dorthin, wo er nichts zu suchen hat. Er taucht auf, wenn jemand verschwindet. Er ist ein stiller Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Schweigen. Dass er auch von Kindern gesehen wird, macht die Sache nur unheimlicher: Wer die Kindheit bedroht, bedroht die Ordnung der Welt und rührt an ihre Grundfesten. Das macht ihn zu einer Figur, die mehr trägt als nur die Handlung. Er ist das seismografische Gerät, das aufzeichnet, was unter der Oberfläche dieses Landes gärt: kaputte Familien, schweigende Väter, zerschnittene Lebenswege. Nur Harry nimmt diese Erschütterungen wahr.
Nesbø schreibt im "Schneemann" knapp, unprätentiös, mit fast chirurgisch wirkenden Präzision. Er braucht keine Sprachgirlanden, keine überlangen Innenmonologe oder Adjektivtürme. Er setzt wenige Striche – und man sieht die ganze Szene. Als würde er Oslo und die Menschen in der Stadt mit einem Skalpell freilegen. Die Gewalt kommt nicht als Spektakel daher, sondern als Konsequenz. Was erschüttert, ist nicht das Explizite, sondern immer der kurze Moment davor: das Schweigen, die Ungewissheit, der Schnee, der jede Spur schluckt.
Oslo als Resonanzraum
Nesbø macht Oslo zur heimlichen zweiten Hauptfigur des Romans und zu einem Resonanzraum. So ist das Hauptquartier der Polizei in Grønland der Ort, an dem Harrys Professionalität gezeigt wird – durch sein eigenes Agieren, aber auch durch die Erinnerungen oder Aussagen seiner Kollegen. Seine Wohnung in Sofienberg/ Grünerløkka spiegelt dagegen seinen inneren Zustand –sie zeigt Holes Zerrissenheit und innere Erosion. Hier ist nichts heimelig, hier lebt oder überlebt man.
Während die Ermittlungen sich zuspitzen, wechselt der Roman immer wieder in die Perspektiven anderer Figuren. Nesbø nutzt das wie Stroboskoplicht: Der Leser sieht etwas – und im nächsten Moment ist es weg. Diese Technik verstärkt das Thema der unsichtbaren Fäden, die alle Beteiligten verbinden. Und irgendwann versteht man: Es geht hier nicht nur um einen Serienmörder. Es geht um das Schweigen und Verschweigen in Familien, um falsche Loyalität, um Kinder, die nicht die Väter bekommen haben, die sie verdient hätten. In Nesbøs Roman geht es um Familien, die zerbrechen und um Gewalt, die ein nie wieder zu vergessendes Erbe hinterlässt.
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