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Håkan Nesser, Kim Novak badete nie im See Genezareth - Sommer der Sünde

Verträumt und idyllisch – an einem See in Schweden
© Pixabay

17.08.2025 / FULDA - Anfang der 1960er Jahre war es für junge Menschen in Schweden genauso langweilig wie anderswo. Nix los, kaum Angebote. In Nessers Roman kommt noch persönliche Unbill dazu – die Mutter hat Krebs, der Vater arbeitet im Knast und beide Eltern haben keine Zeit für ihren 14-jährigen Sohn Erik. Der pubertiert heftig und bewegt sich zwischen Schule, Freizeit und Gleichaltrigen. Aber dann kommt sie – Kim Novak. Und außerdem geschieht "das Schreckliche".



Eine Erscheinung auf dem Schulhof

Na ja, es ist nicht ganz Kim Novak, aber die neue Aushilfslehrerin Ewa Kaludis sieht der US-Schauspielerin sehr ähnlich. Die Reaktionen sind bei Schülern und Lehrern ziemlich gleich – das Blut gerät in Wallung. Ewa ist jung, blond, hübsch und sexy, Erik ist hin und weg: "Dickes, weizenblondes Haar, schick hochgesteckt mit einem roten Tuch. Eine dunkle, elegante Sonnenbrille, und ein Mund, der so groß und atemberaubend war, dass mir die Knie weich wurden. Schwarze, enge Stretchhose und ein schwarz-rot-kariertes Hemd, das im Wind flatterte." Leider ist Ewa aber mit dem Handball-Star "Kanonen-Berra" verlobt. Und sie bleibt nur für wenige Wochen.

"Es wird ein schwerer Sommer", meint Eriks Vater, man solle sich besser gleich darauf einstellen. Er entscheidet, dass Erik In den Sommerferien mit seinem älteren Bruder Henry und Kumpel Edmund ins Ferienhäuschen der Familie übersiedeln soll. Das liegt am Möckeln-See und trägt den schönen Namen Genezareth. Erik hat nichts dagegen, ein Sommer am See ist immer gut. Bruder Henry hat gerade den Freelancer-Job bei der Lokalzeitung "Kurren" aufgegeben und will nun ein Buch schreiben. Wie der Sommer ablaufen wird, ist relativ schnell klar: "Ulla-Bellas Fleischklöße mit Kartoffeln und Preiselbeeren. Henry und der existenzielle Roman. Edmund und ich beim Abwasch." Daneben Einkaufen, Lesen, den Sommer genießen, Eis essen, den Mädchen nachstellen. Die Musik von Buddy Holly, Little Richard, Elvis und The Drifters ist der Soundtrack dazu – aus Henrys Tonbandgerät. Erik schreibt und zeichnet an seinem Comic "Oberst Darkin". Und beide Jungs lesen viel: Anthony Buckeridges "Rex Milligan"-Serie. Jules Vernes "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde". Agatha Christies "Zehn kleine Negerlein", "Der Tod auf dem Nil" und "Alibi".

"Krebs. Treblinka. Liebe. Tod. Bumsen."

Es ist ein Spitzensommer, finden die Jungs: "Man brauchte sich nie zu beeilen, weil es doch Sommer war, unter keinen Umständen. Die Zeit lag wie ein Meer vor uns, das tausendmal größer war als der Möckeln, man konnte sich nach Lust und Laune daraus bedienen." Aber "das Schreckliche" wird noch geschehen. Und es deutet sich schon an, auch in der Litanei, die durch Eriks Kopf geht: "Krebs. Treblinka. Liebe. Tod. Bumsen. Mir war klar, dass es das alles auf der Welt gab. Es gab es, es gab es, und später, den ganzen Sommer über, tauchte diese Litanei immer wieder in meinem Kopf auf, genau diese fünf Worte, wie ein sinnloses Gebrabbel. Nein, vielleicht doch nicht so sinnlos, eher wie eine Art Schuss auf etwas, das ich begriff, aber nicht begreifen wollte."

Den sommer-friedlichen Gleichlauf der Tage unterbricht das Techtelmechtel, das Henry mit Ewa Kaludis anfängt. Deren eifersüchtiger Freund Bertil ist darüber alles andere als ‚amused‘, und so spitzen die Dinge sich zu: Eines Tages wird der Handballer tot auf dem Parkplatz aufgefunden. Die Polizei bemüht sich, herauszufinden, wer der Täter ist. Sie verdächtigt Henry und nimmt ihn vorsorglich auch in U-Haft, aber auch Erik und Edmund stehen unter Tatverdacht. Der Polizei gelingt es aber nicht, Beweise für die Tat zu finden, auch die Tatwaffe bleibt verschwunden. Erik gesteht Ewa seine Liebe: "‘Ich scheiße drauf, dass ich erst vierzehn bin. Du bist die schönste Frau der Welt, und ich liebe dich. (…) Das musste ich einfach sagen. Das war alles, vielen Dank‘. Dann küsste ich sie und ging."

Viel mehr als ein Krimi

Håkan Nessers "Kim Novak badete nie im See Genezareth" ist weit mehr als ein Krimi. Ja, es gibt eine Leiche und einen Mord, ja, es gibt Verdächtige. Tatsächlich aber ist das Buch eine sehr genau beobachtete psychologische Studie über das Heranwachsen eines 14-Jährigen. Aus dessen Welt und Innenwelt ergibt sich die Spannung des Buchs. Und natürlich geht es um die erwachende Sexualität in diesem Alter, mit der Erik und Edmund umgehen müssen. Nesser schreibt präzise und knapp. Es wird viel geschwiegen in diesem Roman, die Zwei-Wort-Unterhaltung zwischen Erik und Edmund gehört zu den ‚geschwätzigsten’ Kapiteln des Buchs. Die Jungs verstehen sich wortlos. Fast wie ein altes Ehepaar.

Nesser urteilt nicht, er bleibt bis zum Schluss auf der Seite der Jungs. Er erzählt aus ihrer Gefühls- und Erlebniswelt heraus. Es ist ein kindlicher, fast unschuldiger Blick auf beklemmende Schicksale von Krebs bis Tod bis Treblinka bis Liebe und Sex. Der "schwere Sommer" konfrontiert mit Situationen, denen Erik und Edmund nicht gewachsen sind, und man darf sich als Leser:in fragen, ob man ihnen je gewachsen ist. Von fern erinnert das Buch an Salingers "Fänger im Roggen", nur geht es bei Nesser nicht um Gesellschaftskritik. Aber Erik und Holden sind Brüder im Geiste.

Wird der Mord aufgeklärt? Ja – und nein. Wenn Sie Lust haben, lesen Sie am besten gleich weiter. Nessers Roman nämlich beruht auf einem tatsächlichen Mordfall, er sprach mit allen Beteiligten und verfremdete die Geschichte dann für seinen Roman. Erst nach zehn Jahren – so war es mit den Beteiligten abgestimmt – offenbarte Nesser die Hintergründe in dem Buch "Die Wahrheit über Kim Novak und den Mord an Berra Albertsson". Es lohnt sich, nicht nur wegen der zusätzlichen Informationen und die Aufklärung der im Roman verstreuten Hinweise und Informationen, wie sich das Leben aller Beteiligten entwickelte. Das sorgt schon für einige Ahas, besonders spannend ist das Büchlein aber deshalb, weil es einen Blick in Nessers Schreibstube ermöglicht. Und das bietet einem wahrlich nicht jeder Autor an. (Jutta Hamberger)+++

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