Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
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25.09.2022 / REGION -
Haben Sie in den vergangenen Tagen auch oft auf die Insel geschaut und Anteil genommen am Tod der Königin? Haben Sie das Staatsbegräbnis verfolgt? Dann waren Sie Teil eines großen Fanclubs von ca. 5 Mrd. Menschen weltweit. Zu dem gehörte natürlich auch ich. Mit Interesse – und vielen Gedanken zur Zukunft des Vereinigten Königreichs, das ich schätze und liebe.
Eine Jahrhundertfigur tritt ab
Die Übertragung der BBC war mir dabei lieber – zwar sehr staatstragend, aber nicht derart im royalen Überschwang wie die deutschen Sender mit ihren ‚Adels-Experten‘. Manches an der Berichterstattung fand ich angenehm sedierend, weil es mir Zeit zum Verarbeiten meiner Gedanken gab – etwa die lange Autofahrt von Balmoral nach Edinburgh. Anderes hat mich berührt, z.B. die Aufbahrungen und die unerschütterliche Geduld der Menschen, sich stundenlang anzustellen, um sich vor dem aufgebahrten Sarg zu verneigen. "Pomp und Circumstance" des Staatsbegräbnisses stießen mir irgendwann auf. Der Kontrast zwischen der imperialen Selbstdarstellung und der tristen Realität dieses Landes ist einfach zu groß. Brexit, Inflation, Commonwealth, Unabhängigkeit – es gibt viele Stichworte für viele Krisen, die alle nicht einmal ansatzweise gelöst sind. Und nun fehlt auch noch der königliche Kitt, der alles zusammenhielt.
Ich hatte das starke Bedürfnis, mich mit ‚merry old England‘ zu beschäftigten und griff nach Alan Bennetts "Die souveräne Leserin". Die Erzählung ist auch eine Hommage an Königin Elizabeth II. Es ist eine 'Was wäre, wenn …-Geschichte', in der Bennett darüber fabuliert, was wohl passieren würde, wenn die Königin das Lesen für sich entdeckt.
Natürlich sind die Corgis schuld, ihre im ganzen Palast verhassten Hunde. Eines Nachmittags führen die Hunde sie eher zufällig zum im Hof geparkten Bücherbus. Aha, eine Ausleihe, die Königin ist ein höflicher Mensch, sie leiht sich ein Buch und greift nach Ivy Compton-Burnett, mit deren Name sie etwas anfangen kann, hat sie die Autorin doch einst in den Adelsstand erhoben. Und weil sie sehr pflichtbewusst ist, liest sie das Buch, auch wenn es sie nicht wirklich begeistert. Denn so ist sie aufgewachsen: "Bücher, Brot und Butter, Kartoffelbrei – man isst auf, was man auf dem Teller hat."
Im Bücherbus trifft sie Norman, der in der königlichen Küche arbeitet, und ein begeisterter Leser ist. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft – nein, natürlich nicht. Wir sind in England, Standesschranken werden nicht durchbrochen. Aber über Bücher diskutieren die beiden fortan viel, und anfangs folgt die Königin auch Normans Lesetipps. Bald reicht der Bücherbus nicht mehr aus, aber das ist kein Problem für die Königin, denn sie ist Schirmherrin der Königlichen Bibliothek und in ihren Palästen steht auch einiges herum.
Lesen hat Nebenwirkungen
Das viele Lesen bleibt nicht ohne Nebenwirkungen. Wer liest, entdeckt andere Welten, kommt auf andere Gedanken, verändert sich. So geschieht es auch mit der Königin. Zunächst wird das im Palast als neue, schrullige Marotte abgetan. Aber bald merkt man, dass Lesen und royale Pflichten sich nicht vertragen. Die vielen Termine sind einfach nervig, wenn man einfach nur in Ruhe lesen möchte. Zum Entsetzen ihres Privatsekretärs wird aus der pflichtbewussten Königin jemand, der alles, was bisher ihr Leben ausmachte, nur noch lästig ist. Ehemann Philip nimmt die Lese-Marotte seiner Frau gelassen hin, was aber eher daran liegt, dass ihr neues Hobby seinen Tagesablauf nicht weiter stört.
Mit jedem weiteren Buch werden der Königin die erstarrten royalen Konventionen bewusster. Sie spürt: Wer gern liest, hat immer zu wenig Zeit und zu viele ungelesene Bücher. Die Bedenken ihres Privatsekretärs Sir Kevin, Lesen sei doch irgendwie elitär, kann sie nicht verstehen. Sir Kevin findet, Lesen bedeutet, sich zurückzuziehen und nicht zur Verfügung zu stehen. Die Königin findet, Lesen bedeutet einfach Lesen. Sir Kevin findet, wenn man schon liest, dann müsse das mit einem Anliegen verbunden werden, dass presse- und marketingtechnisch verwertbar ist.
Der Begriff "woke" war 2007 noch nicht erfunden, aber seine Idee, die Königin möge außer englischer noch ethnische Literatur lesen, kommt dem schon sehr nah. Man klopft sich innerlich auf die Schenkel, wenn man die Diskussion der beiden verfolgt, ob Salman Rushdie und Vikram Seth nun darunterfallen oder nicht (beide wissen es nicht). Die Königin stellt fest, dass es zwischen Büchern und ihren Hunden eine Gemeinsamkeit gibt – beiden ist der Rang eines Menschen völlig egal. Sie empfindet das als befreiend.
Lesen deckt die Leere des Lebens auf
Weiterführender Link:
Interview mit Alan Benett: https://www.theguardian.com/stage/2010/nov/23/alan-bennett-interview
(Jutta Hamberger)+++
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