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Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"

Wenn die KI das Leben bestimmt
© Pixabayx

14.05.2023 / REGION - Zum heutigen Muttertag – Achtung: Warnung! – gibt’s kein Lesekonfekt, sondern einen dystopischen Mütter-Roman. Mit meiner Faszination über die Emo-Hölle dieses Romans bin ich nicht allein, Chans Erstling schaffte es aus dem Stand auf die Bestseller-Liste der New York Times.



Ein ganz, ganz schlechter Tag

Jessamine Chans "Institut für gute Mütter" ist in einem idyllisch gelegenen geisteswissenschaftlichen College untergebracht, das ursprünglich von Quäkern gegründet wurde und bankrott ging. Der harte Kontrast zwischen den Überresten des alten Geistes und der Erbarmungslosigkeit der neuen Herren fühlt sich an wie Faustschläge. Hier werden gute Mütter ‚gemacht‘, mit eiserner Disziplin, Wärtern, harten Strafen und einem Elektrozaun. Flucht ist nicht möglich – außer durch Selbstmord. Wer hierher eingewiesen wird, hat nach Auffassung des Staats sein Kind vernachlässigt oder gefährdet.

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Frida Liu erfährt auf der Rückfahrt von ihrem Arbeitsplatz, dass ihre 18 Monate alte Tochter Harriet in Gewahrsam genommen wurde, weil Frida sie alleingelassen hat. Zwar nur kurz, aber zu lang für die neue und erbarmungslose Mutter-Ethik. Frida muss ihre Unschuld beweisen, um ihr Leben zurückzubekommen. Zunächst muss sie sich einer Beobachtungsphase unterziehen. Die KSB (Kinderschutzbehörde) installiert in jedem Raum der Wohnung Kameras, ihre Anrufe werden überwacht, ihre Internet-Aktivitäten aufgezeichnet – denn man müsse Frida besser kennenlernen. "Diese Leute sind wie die verdammte Stasi", findet Frida. Die KSB hat klare Vorstellungen darüber, wie eine Mutter zu sein hat: Perfekt – zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage. Für den KBS gibt es keine Ausreden wie Schreibaby, Stress im Beruf, Zeitnot, Krankheit der Mutter, Probleme in der Partnerschaft, übermüdet sein etc. – gute Mütter sind 24/7 nur für ihr Kind da. Sie lösen für ihr Kind die eigene Persönlichkeit auf. Je weniger sie ‚Ich‘ sind, desto bessere Mütter sind sie.

Harriet wird bei ihrem Vater Gust und dessen neuer Freundin Susanna untergebracht. Frida darf sie nur in begleiteten Situationen sehen, bei Besuchen, die von einer Sozialarbeiterin überwacht werden. Ms. Torres hat ersichtlich Freude daran, Mutter und Kind zu quälen – einfach, weil sie die Macht dazu hat. Die beiden ersten Begegnungen verlaufen katastrophal. Harriet ist völlig durcheinander, sieht die Sozialarbeiterin als Störenfried. Mutter und Kind gelingt es nicht, so miteinander zu agieren, wie die Sozialarbeiterin das für richtig hält. Weitere Begegnungen unterbindet Ms. Torres daher.

Nach ihrer erwartbaren Verurteilung ‚darf‘ Frida an einem Rehabilitierungsprogramm teilnehmen. Das bedeutet: Ein Jahr Training und Unterricht mit anderen Müttern, Trennung von der eigenen Familie, denn Frida muss lernen, eine bessere Mutter zu werden. "Jetzt geht es also los, denkt Frida. Sie ist eine schlechte Mutter unter anderen schlechten Müttern. Sie hat ihr Kind vernachlässigt und im Stich gelassen. Sie hat keine Vorgeschichte, keine andere Identität." Sie und 200 andere Frauen. Weinende Frauen ist der Dauer-Geräuschpegel des Instituts, so allgegenwärtig, dass man von einem weißen Rauschen sprechen kann.

Mutterliebe wird vermessen

Wie in jeder Gefangenen-Einrichtung werden auch hier den Müttern alle persönlichen Besitztümer abgenommen. Sie müssen ihre Kleidung ablegen, ab jetzt tragen sie alle die gleichen geschlechtslosen, rosafarbenen Overalls, erhalten alle die gleiche Unterwäsche und die gleichen Schuhe, die gleichen Hygieneartikel. Alle Frauen müssen eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben. Widerspruch wird nicht geduldet, Individualität auch nicht. Die Verantwortlichen haben immer recht und können die Regeln jederzeit nach Belieben ändern und verschärfen. "Schlechte Eltern müssen alles von Grund auf neu lernen, die richtigen Instinkte, die richtigen Gefühle, die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden sichere, fürsorgliche und liebevolle Entscheidungen zu treffen", verkünden die Leiterinnen. Neun Lektionen müssen bearbeitet, die entsprechenden Prüfungen bestanden werden. Nur wer das schafft, hat die Chance, sein Kind zurückzubekommen, sonst ist das Sorgerecht auf Dauer futsch. Sonntags dürfen die Frauen mit ihren Kindern telefonieren, streng nach Stechuhr und nur mit vorgeschriebenen Themen.

Wenn man dachte, damit schon den Gipfel faschistoider Indoktrination erklommen zu haben, wird man rasch eines Besseren belehrt. Die Geschichte spielt im 21. Jahrhundert – mit Internet, Social Media und KI. Jede Frau bekommt ein künstliches Kind zugeteilt, das in Aussehen und Alter dem echten Kind jeder Frau gleicht. "Die Kinder sind auf dem neuesten Stand der Robotertechnik und der künstlichen Intelligenz. Sie können sich bewegen, sprechen, riechen und fühlen wie echte Kinder. Sie können hören. Sie können denken. Sie sind empfindsame Wesen mit der Denkleistung, dem Erinnerungsvermögen und dem Wissen von gleichaltrigen Kindern", erklärt eine der Trainerinnen.

Die Kinder sind aber nicht nur Stellvertreterkinder, sie sammeln auch Informationen über ihre Mütter. "Die Liebe der Mütter messen", das ist die pädagogische Leitlinie des Instituts. Dazu gehört, dass man "Muttisch" sprechen lernt – im perfekten Tonfall, mit dem angemessenen Vokabular und der richtigen und vorgeschriebenen Anzahl an Wörtern pro Tag. Wie überhaupt alles in Maßeinheiten eingeteilt ist – von der Anzahl und Dauer der Umarmungen bis zu der Zeit, die es dauern darf, ein verletztes Kind zu trösten oder zum Einschlafen zu bringen.

Ontologisch Mutter – und sonst gar nichts

Was von Frida und den anderen Frauen gefordert wird, ist nur um den Preis völliger Selbstaufgabe möglich. Es ist eine Welt, der die Wissenschaft ausgetrieben worden ist, es geht nur noch um Intuition – und um Ideologie. "Eine Mutter soll keine Fragen stellen müssen. Eine Mutter soll die Antwort intuitiv kennen. Einfach Bescheid wissen", lernen die Frauen. "Eine Mutter ist stets liebevoll. Gibt immer alles. Eine Mutter verliert nie die Nerven und ist ein Puffer zwischen ihrem Kind und der grausamen Welt."

Die NY Times schreibt: "In der Institution lernt Frida, dass sie nicht eine Sünde der Elternschaft, sondern eine des Seins begangen hat: Weil sie sich als Tochter, Geliebte, Angestellte und Bürgerin und nicht nur als Mutter versteht, hat sie gegen den neuen Code mütterlicher Ethik verstoßen. Um das zu korrigieren, muss sie alle überflüssigen ‚Ichs‘ abschlachten."

Der Roman ist eine kühl und elegant geschriebene Abrechnung mit so mancher Absonderlichkeit in aktuellen Erziehungsdiskussionen. Das Social-Credit-System in China oder faschistische Überwachungsstaaten von einst und heute klingen an, genauso aber auch neuzeitliche Bevormundungs-Strategien von Still-Zwang bis Kinderzimmer-Einrichtung. Das Buch ist aufmüpfig wie Atwoods "Report der Magd" und geistesverwandt mit der klugen Feministin Élisabeth Badinter, von der wir wissen: Mutterliebe ist kein Instinkt. Und es gibt weder perfekte Mütter noch perfekte Kinder. Nur mittelmäßige.

Links

Artikel in der NY Times über die Entstehung des Buchs:https://www.nytimes.com/2022/08/25/books/how-to-get-published.html

Besprechung des Buchs in der NY Times:

https://www.nytimes.com/2022/01/11/books/review-school-for-good-mothers-jessamine-chan.html

Besprechung des Buchs in Der Freitag:

https://www.freitag.de/autoren/sylvie-sophie-schindler/erziehung-als-social-credit-system-jessamine-chans-institut-fuer-gute-muetter


Vorstellung des Buchs auf Oprah Daily: https://www.oprahdaily.com/entertainment/books/a38677378/school-of-good-mothers-jessamine-chan/


Erstes Interview mit Jenny, einer KI-Person, im heute-Journal vom 30. April 2023: https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/interview-ki-jenny-100.html

(Jutta Hamberger)+++

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