Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
© Pixabayx
14.05.2023 / REGION -
Zum heutigen Muttertag – Achtung: Warnung! – gibt’s kein Lesekonfekt, sondern einen dystopischen Mütter-Roman. Mit meiner Faszination über die Emo-Hölle dieses Romans bin ich nicht allein, Chans Erstling schaffte es aus dem Stand auf die Bestseller-Liste der New York Times.
Ein ganz, ganz schlechter Tag
Harriet wird bei ihrem Vater Gust und dessen neuer Freundin Susanna untergebracht. Frida darf sie nur in begleiteten Situationen sehen, bei Besuchen, die von einer Sozialarbeiterin überwacht werden. Ms. Torres hat ersichtlich Freude daran, Mutter und Kind zu quälen – einfach, weil sie die Macht dazu hat. Die beiden ersten Begegnungen verlaufen katastrophal. Harriet ist völlig durcheinander, sieht die Sozialarbeiterin als Störenfried. Mutter und Kind gelingt es nicht, so miteinander zu agieren, wie die Sozialarbeiterin das für richtig hält. Weitere Begegnungen unterbindet Ms. Torres daher.
Mutterliebe wird vermessen
Wie in jeder Gefangenen-Einrichtung werden auch hier den Müttern alle persönlichen Besitztümer abgenommen. Sie müssen ihre Kleidung ablegen, ab jetzt tragen sie alle die gleichen geschlechtslosen, rosafarbenen Overalls, erhalten alle die gleiche Unterwäsche und die gleichen Schuhe, die gleichen Hygieneartikel. Alle Frauen müssen eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben. Widerspruch wird nicht geduldet, Individualität auch nicht. Die Verantwortlichen haben immer recht und können die Regeln jederzeit nach Belieben ändern und verschärfen. "Schlechte Eltern müssen alles von Grund auf neu lernen, die richtigen Instinkte, die richtigen Gefühle, die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden sichere, fürsorgliche und liebevolle Entscheidungen zu treffen", verkünden die Leiterinnen. Neun Lektionen müssen bearbeitet, die entsprechenden Prüfungen bestanden werden. Nur wer das schafft, hat die Chance, sein Kind zurückzubekommen, sonst ist das Sorgerecht auf Dauer futsch. Sonntags dürfen die Frauen mit ihren Kindern telefonieren, streng nach Stechuhr und nur mit vorgeschriebenen Themen.
Die Kinder sind aber nicht nur Stellvertreterkinder, sie sammeln auch Informationen über ihre Mütter. "Die Liebe der Mütter messen", das ist die pädagogische Leitlinie des Instituts. Dazu gehört, dass man "Muttisch" sprechen lernt – im perfekten Tonfall, mit dem angemessenen Vokabular und der richtigen und vorgeschriebenen Anzahl an Wörtern pro Tag. Wie überhaupt alles in Maßeinheiten eingeteilt ist – von der Anzahl und Dauer der Umarmungen bis zu der Zeit, die es dauern darf, ein verletztes Kind zu trösten oder zum Einschlafen zu bringen.
Ontologisch Mutter – und sonst gar nichts
Die NY Times schreibt: "In der Institution lernt Frida, dass sie nicht eine Sünde der Elternschaft, sondern eine des Seins begangen hat: Weil sie sich als Tochter, Geliebte, Angestellte und Bürgerin und nicht nur als Mutter versteht, hat sie gegen den neuen Code mütterlicher Ethik verstoßen. Um das zu korrigieren, muss sie alle überflüssigen ‚Ichs‘ abschlachten."
Links
Artikel in der NY Times über die Entstehung des Buchs:https://www.nytimes.com/2022/08/25/books/how-to-get-published.html
Besprechung des Buchs in der NY Times:
https://www.nytimes.com/2022/01/11/books/review-school-for-good-mothers-jessamine-chan.html
Besprechung des Buchs in Der Freitag:
https://www.freitag.de/autoren/sylvie-sophie-schindler/erziehung-als-social-credit-system-jessamine-chans-institut-fuer-gute-muetter
Vorstellung des Buchs auf Oprah Daily: https://www.oprahdaily.com/entertainment/books/a38677378/school-of-good-mothers-jessamine-chan/
Erstes Interview mit Jenny, einer KI-Person, im heute-Journal vom 30. April 2023: https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/interview-ki-jenny-100.html
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