Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
© Wikipedia / CC BY-SA 3.0
30.06.2024 / FULDA -
"Die Weltmeisterschaft von 1974 spielte keine Rolle für die Stärkung des deutschen Nationalgefühls", zitiert Roland Reng gegen Ende seines Buchs den Historiker Kay Schiller. Das ist bemerkenswert, weil es bei anderen WM-Titeln ganz anders war. Der Sieg 1954 gilt als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik. Der Sieg 1990 war das erste gesamtdeutsches Fest nach der Wiedervereinigung. Und nein, Reng hat kein Fußballbuch geschrieben, sondern ein deutsch-deutsches Deutschlandbuch.
Zeitreise durch die 70er Jahre
Die frühen 70er Jahre in der Bundesrepublik waren in jeder Hinsicht bewegte Jahre. Die Teilung in zwei deutsche Staaten war Normalität geworden. Der Terror der RAF fordert die junge Bundesrepublik heraus. Die Nach-68er räumen nicht nur mit dem Mief unter den Talaren, sondern auch mit der nicht aufgearbeiteten faschistischen Vergangenheit ihrer Eltern auf. Willy Brandt will mehr Demokratie wagen und schließt die Ostverträge. Im Kanzleramt wird Günter Guillaume als Spion enttarnt. Plenzdorfs "Die Leiden des jungen W." werden zum Mega-Erfolg. Deutschlands beste Satire-Zeitschrift heißt "Pardon" (mit Autoren wie Eckard Henscheid, Alice Schwarzer und Robert Gernhardt).
Großartige Parallel-Erzählung
Als zeitgeschichtliche Klammer ist dieses Buch über eine 90minütige Fußballpartie der WM von 1974 einfach klasse. Es geht um die einzige Begegnung zwischen Deutschland und der DDR im Fußball, die – wider Erwarten – von der DDR mit 1:0 gewonnen wurde. Das war damals ein Schock, vielleicht aber die Voraussetzung für den späteren Titelgewinn der deutschen Mannschaft.
· Roland Jahn, der in der DDR als Staatsfeind galt und 1983 zwangsausgebürgert wurde. Nach der Wende war der Journalist und Bürgerrechtler Leiter der Stasiunterlagenbehörde BStU.
· Jutta Wachowiak, der ersten Darstellerin der Charlotte in Plenzdorfs "Neuen Leiden des jungen W.". Die Schauspielerin konnte nach der Wiedervereinigung nahtlos an ihre Erfolge im Osten anknüpfen.
· Doris Gerckes Familie floh 1949 aus Greifswald nach Hamburg, wo sie als Erwachsene das Begabten-Abitur machte. Sie trat der DKP bei und sollte deshalb 1974 die von der DDR handverlesenen "Touristen" während der WM begleiten. Später wurde sie Juristin und Kriminalautorin (Bella Block).
· Klaus Jünschke, ehemaliges Mitglied der RAF, sitzt 1974 in der JVA Zweibrücken in Haft. Er ist kein Fußballfan, und doch Thema bei dieser deutsch-deutschen Partie. Denn in einem Gespräch mit seiner Verlobten hatte er geäußert, dass während der WM von den Raketen noch kein Gebrauch gemacht worden sei.
· André Krüger, der schon als Jugendlicher Fan der australischen Nationalmannschaft ist und alles über sie sammelt. Heute ist er dort als "The Crazy German" und größter Fan der Socceroos bekannt – und alles begann mit seiner Dokumentation der australischen Fußballgeschichte. Natürlich wird er zu den Treffen der 1974er-Mannschaft regelmäßig eingeladen.
. Und Günter Netzer, einer der überragenden Fußballer jener Jahre, der bei der WM im eigenen Land ganze 20 Minuten auf dem Platz stand – in der Partie gegen die DDR. Eine Einwechslung zur Unzeit, auch Netzer konnte das Spiel nicht mehr drehen. Das wurde zu Unrecht ihm angelastet, seine Karriere in der Nationalmannschaft war damit beendet.
Durch diese Montagen in die Partie zwischen Deutschland und der DDR hinein entsteht ein ungeheurer Sog, dem man sich weder entziehen kann noch will. Reng montiert Sportliches und Poltisches, West und Ost und zeigt, wie komplex die Querverbindungen sind. Die FAZ schrieb in ihrer Rezension des Buchs: Reng "kennt die faszinierende Wirkung, die solche Montagesequenzen auch in Spielfilmen entfalten können, weil sie das Synchrone bündeln und damit intensivieren."
Reng fängt an einem einzigen Tag eine ganze Zeit ein und beschreibt, was in beiden deutschen Staaten damals wichtig war. Die vielen politischen, kulturellen sportlichen und menschlichen Episoden aus der deutsch-deutschen Geschichte machen dieses Buch so lesenswert. Erst jetzt ist über dieses Spiel und Sparwassers Tor wirklich alles gesagt, was zu sagen ist.
(Jutta Hamberger)+++
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