Was wir lesen, was wir schauen (101)

Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit

Inis Cealtra Monastery – das Kloster wurde im 8. Jahrhundert auf Holy Island erbaut. Edna O’Brien wurde auf ihren Wunsch hin auf der Insel begraben
© Wikipedia / Cliodhnaoleary - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0,

08.09.2024 / FULDA - Am 27. Juli 2024 verstarb Edna O’Brien - sie wurde beinahe 94 Jahre alt. Ihr Werdegang als Schriftstellerin ist bemerkenswert: Sie begann als Outlaw und endete mit allerhöchsten staatlichen Ehren. Weil sie ihrem Land den Spiegel vorhielt, wurde sie von den männlichen Würdenträgern in Staat und Kirche abgelehnt, ja sogar gehasst. Es ist auch Edna O’Brien und ihren Büchern zu verdanken, dass Irland sich aus einem repressiven, patriarchalischen und von heuchlerischem Katholizismus dominierten System in eine liberale Republik verwandeln konnte.



Sehnsucht nach dem eigenen Leben

Edna O’Briens Erstling waren 1960 die "Country Girls" (deutsch: "Die Fünfzehnjährigen"), der Auftakt zu einer Trilogie des Erwachsenwerdens. Die beiden Folgebände sind "The Lonely Girl" und "Girls in their Married Bliss". Als die "Country Girls" erschienen, war Irland rückständig, erzkonservativ und erzkatholisch. Männer bestimmten alles und schrieben Frauen ihre Rollen vor. Frauen hatten nichts oder wenig zu sagen, Aufmüpfigkeit wurde sofort bestraft.

Ganz anders die Heldinnen von "Country Girls" – Kate Brady und ihre Freundin Baba Brennan. Wir lernen sie in den 1950er Jahren kennen, sie leben in einer kleinen, ländlichen Gemeinde Irlands. Die Mädchen kennen sich seit Kindertagen, und auch wenn sie so ungleich sind und nicht immer einer Meinung, halten sie zusammen, wenn es darauf ankommt.

Kates Vater ist Trinker, die Mutter versucht, die Familie zusammenzuhalten und hält in stillem Martyrium die Alkoholexzesse ihres Mannes genauso wie seine Schläge aus. Angst ist ein ständiger Begleiter in dieser Familie. Kate will mehr, als der für sie vorgesehene Lebensweg vorsieht. Als ihre Mutter stirbt, wird Kate in ein katholisches Internat verfrachtet, das genauso ist, wie man das aus vielen Berichten und Erzählungen kennt: trostlos, kalt, mit Erziehungsprinzipien, die auf Gewalt und Unterdrückung setzen. Ihr Glück ist, dass auch Baba auf das Internat geht. Keiner gefällt es dort, und so kommt es, wie es kommen muss: nach einem ‚Skandal‘ werden beide der Schule verwiesen.

Kate und Baba gehen nach Dublin und suchen sich Jobs. Aber eigentlich suchen sie das Leben, die Lebenslust – und die Liebe. Zumindest ist es Kates geheimer Wunsch, Mr. Right zu finden, Baba genießt das Single-Leben mit wechselnden Männerbeziehungen in vollen Zügen. Beide begehren auf gegen ein System, das weibliche Emanzipation systematisch verweigert, von Frauen zuhause und im öffentlichen Leben stille Dienstleistung auch bei schlechter Behandlung erwartet und ihnen jegliche intellektuellen Ambitionen und natürlich auch sexuelle Freizügigkeit abspricht. Kate und Baba wollen sich nicht damit abfinden, dass Männer – Väter, Brüder, Lehrer, Priester, Chefs, Liebhaber, Ehemänner – ihnen vorschreiben, wie sie zu leben haben. Beide wollen jeweils ihren Weg finden. Manches gelingt ihnen, anderes nicht – aber sie geben nicht auf. Erwachsenwerden ist nie leicht.

Skandalfaktor – Befreiungsfaktor

In Irland wurde O’Briens Roman vom damaligen Justizminister Charlie Haughey als "Schmutz" gebrandmarkt, das Buch wurde in ihrem westirischen Heimatort Tuamgraney öffentlich verbrannt und kam in ganz Irland wegen zu großer erotischer Freizügigkeit auf den Index der verbotenen Bücher. Man warf O’Brien vor, die Schmutzwäsche Irlands in aller Öffentlichkeit zu waschen. Schmutzwäsche übrigens, die so dreckig ist, dass sie auch heute noch Intensivwaschprogramme braucht. Man denke nur an die vielen Skandale um Klosterschulen, uneheliche Mütter, die man stigmatisierte und kriminalisierte und denen man ihre Kinder wegnahm. Eine Leserin schrieb über das Buch, "der Glaube hänge über allen Köpfen" und ließe die Mädchen nicht frei. Besser kann man es nicht zusammenfassen.

Der damalige irische Aufschrei ist heute kaum noch zu verstehen – außer man gehört zu den Menschen, die sogenannte traditionelle Familienbilder für den einzig richtigen Weg und Vorschriften für Frauen für normal halten. Ja natürlich geht es ums sexuelle Erwachen, das Buch ist aber nie pornographisch. Edna O’Brien schreibt in klaren Sätzen, schnörkellos und unbeirrbar – sie erzählt vom Freiheitsdrang zweier junger Mädchen. Das ist oft schonungslos, aber leider zeitlos aktuell. Die Autorin verhehlt auch nicht, welchen Preis Kate und Baba für ihren Freiheitsdrang zahlen.

"From Pen to Pyre"

Von der Feder auf den Scheiterhaufen habe die Geschichte der "Country Girls" geführt, schrieb der New Statesmen in einem Artikel über Edna O’Brien (14.07.2017 – aktualisiert anlässlich ihres Todes). Heute ist der Roman ein Klassiker der Weltliteratur, NICHT (einschränkend) der ‚Frauenliteratur‘ oder nur der irischen Literatur. Schöne Koinzidenz: Gleichzeitig mit dem irischen Bannfluch begann die internationale Erfolgsstory des Romans. Edna O’Brien galt zwar in Irland als Paria, im Ausland aber als Ikone der Emanzipation.

Dass sie so erfolgreich war, steigerte die Ablehnung in ihrem Heimatland nur noch. Übrigens auch zuhause, ihr Ehemann hatte Probleme mit dem Erfolg seiner Frau – das Paar ließ sich scheiden. Man warf O‘Brien alles vor, was misogyne Männer auch heute noch jeder erfolgreichen Frau unterstellen: Sie sei nicht richtig weiblich oder falsch weiblich, sie sei zu klug, zu laut, zu anmaßend – kurzum, sie sei einfach nicht unterwürfig und männeranbetend genug. Kamala Harris und viele andere Politikerinnen können von solchem Schwachsinn ein Lied singen.

Rotzfrech und berührend

Was O’Brien beschreibt, kannte sie aus eigener Erfahrung nur zu gut. Sie wuchs in einer streng katholischen Familie auf, auch ihr Vater war Trinker. Sie ging auf eine katholische Schule, später nach Dublin und studierte Pharmazie. In ihrer freien Zeit las sie und träumte davon, Schriftstellerin zu werden. 1954 heiratete sie den Schriftsteller Ernest Gébler. Das Paar zog nach London, wo O’Brien für den Verlag Hutchinson Bücher und Manuskripte beurteilte. Darin war sie so gut, dass man ihr für kleines Geld anbot, einen Roman zu schreiben. "The book wrote itself", hat O’Brien später über die sehr kurze Entstehungszeit der "Country Girls" gesagt. Nach nur drei Wochen war der Roman fertig.

Bei allen politischen Implikationen – denn ja, das Buch wurde zum feministischen Türöffner – ist es aber vor allem ein tief berührender, mal komischer, mal trauriger, mal sentimentaler Roman übers Erwachsenwerden. O’Brien macht ihre Heldinnen nicht zu Witzfiguren und auch nicht zu wandelnden Statements, sie zeigt sie in all ihrer Menschlichkeit, mit ihren Stärken, ihren Charakterschwächen, ihren Fehleinschätzungen und in ihrer Entfaltung. Und das mit so feinem Sprachgefühl und so starken Bildern, dass man beim Lesen einfach nur hingerissen ist.

Weiterführende Links



Zum Tod Edna O’Briens: https://www.spiegel.de/kultur/edna-obrien-ist-tot-schriftstellerin-aus-irland-im-alter-von-93-jahren-gestorben-a-534bfc93-d081-4e45-b2f5-8b58cc72e5f2

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/edna-o-brien-irische-schriftstellerin-mit-93-jahren-gestorben-19886250.html

Würdigung der Country Girls: https://www.theguardian.com/books/2012/oct/12/country-girl-edna-obrien-review

Beerdigung Edna O’Briens auf Holy Island: https://clarechampion.ie/tuamgraney-novelist-enda-obrien-is-buried-in-holy-island/

(Jutta Hamberger)+++

Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel

↓↓ alle 52 Artikel anzeigen ↓↓

X