Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
© Wikipedia / Cliodhnaoleary - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0,
08.09.2024 / FULDA -
Am 27. Juli 2024 verstarb Edna O’Brien - sie wurde beinahe 94 Jahre alt. Ihr Werdegang als Schriftstellerin ist bemerkenswert: Sie begann als Outlaw und endete mit allerhöchsten staatlichen Ehren. Weil sie ihrem Land den Spiegel vorhielt, wurde sie von den männlichen Würdenträgern in Staat und Kirche abgelehnt, ja sogar gehasst. Es ist auch Edna O’Brien und ihren Büchern zu verdanken, dass Irland sich aus einem repressiven, patriarchalischen und von heuchlerischem Katholizismus dominierten System in eine liberale Republik verwandeln konnte.
Sehnsucht nach dem eigenen Leben
Kates Vater ist Trinker, die Mutter versucht, die Familie zusammenzuhalten und hält in stillem Martyrium die Alkoholexzesse ihres Mannes genauso wie seine Schläge aus. Angst ist ein ständiger Begleiter in dieser Familie. Kate will mehr, als der für sie vorgesehene Lebensweg vorsieht. Als ihre Mutter stirbt, wird Kate in ein katholisches Internat verfrachtet, das genauso ist, wie man das aus vielen Berichten und Erzählungen kennt: trostlos, kalt, mit Erziehungsprinzipien, die auf Gewalt und Unterdrückung setzen. Ihr Glück ist, dass auch Baba auf das Internat geht. Keiner gefällt es dort, und so kommt es, wie es kommen muss: nach einem ‚Skandal‘ werden beide der Schule verwiesen.
Skandalfaktor – Befreiungsfaktor
Der damalige irische Aufschrei ist heute kaum noch zu verstehen – außer man gehört zu den Menschen, die sogenannte traditionelle Familienbilder für den einzig richtigen Weg und Vorschriften für Frauen für normal halten. Ja natürlich geht es ums sexuelle Erwachen, das Buch ist aber nie pornographisch. Edna O’Brien schreibt in klaren Sätzen, schnörkellos und unbeirrbar – sie erzählt vom Freiheitsdrang zweier junger Mädchen. Das ist oft schonungslos, aber leider zeitlos aktuell. Die Autorin verhehlt auch nicht, welchen Preis Kate und Baba für ihren Freiheitsdrang zahlen.
"From Pen to Pyre"
Von der Feder auf den Scheiterhaufen habe die Geschichte der "Country Girls" geführt, schrieb der New Statesmen in einem Artikel über Edna O’Brien (14.07.2017 – aktualisiert anlässlich ihres Todes). Heute ist der Roman ein Klassiker der Weltliteratur, NICHT (einschränkend) der ‚Frauenliteratur‘ oder nur der irischen Literatur. Schöne Koinzidenz: Gleichzeitig mit dem irischen Bannfluch begann die internationale Erfolgsstory des Romans. Edna O’Brien galt zwar in Irland als Paria, im Ausland aber als Ikone der Emanzipation.
Dass sie so erfolgreich war, steigerte die Ablehnung in ihrem Heimatland nur noch. Übrigens auch zuhause, ihr Ehemann hatte Probleme mit dem Erfolg seiner Frau – das Paar ließ sich scheiden. Man warf O‘Brien alles vor, was misogyne Männer auch heute noch jeder erfolgreichen Frau unterstellen: Sie sei nicht richtig weiblich oder falsch weiblich, sie sei zu klug, zu laut, zu anmaßend – kurzum, sie sei einfach nicht unterwürfig und männeranbetend genug. Kamala Harris und viele andere Politikerinnen können von solchem Schwachsinn ein Lied singen.
Rotzfrech und berührend
Was O’Brien beschreibt, kannte sie aus eigener Erfahrung nur zu gut. Sie wuchs in einer streng katholischen Familie auf, auch ihr Vater war Trinker. Sie ging auf eine katholische Schule, später nach Dublin und studierte Pharmazie. In ihrer freien Zeit las sie und träumte davon, Schriftstellerin zu werden. 1954 heiratete sie den Schriftsteller Ernest Gébler. Das Paar zog nach London, wo O’Brien für den Verlag Hutchinson Bücher und Manuskripte beurteilte. Darin war sie so gut, dass man ihr für kleines Geld anbot, einen Roman zu schreiben. "The book wrote itself", hat O’Brien später über die sehr kurze Entstehungszeit der "Country Girls" gesagt. Nach nur drei Wochen war der Roman fertig.
Bei allen politischen Implikationen – denn ja, das Buch wurde zum feministischen Türöffner – ist es aber vor allem ein tief berührender, mal komischer, mal trauriger, mal sentimentaler Roman übers Erwachsenwerden. O’Brien macht ihre Heldinnen nicht zu Witzfiguren und auch nicht zu wandelnden Statements, sie zeigt sie in all ihrer Menschlichkeit, mit ihren Stärken, ihren Charakterschwächen, ihren Fehleinschätzungen und in ihrer Entfaltung. Und das mit so feinem Sprachgefühl und so starken Bildern, dass man beim Lesen einfach nur hingerissen ist.
Weiterführende Links
Zum Tod Edna O’Briens: https://www.spiegel.de/kultur/edna-obrien-ist-tot-schriftstellerin-aus-irland-im-alter-von-93-jahren-gestorben-a-534bfc93-d081-4e45-b2f5-8b58cc72e5f2
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/edna-o-brien-irische-schriftstellerin-mit-93-jahren-gestorben-19886250.html
Würdigung der Country Girls: https://www.theguardian.com/books/2012/oct/12/country-girl-edna-obrien-review
Beerdigung Edna O’Briens auf Holy Island: https://clarechampion.ie/tuamgraney-novelist-enda-obrien-is-buried-in-holy-island/
(Jutta Hamberger)+++
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