Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
© Wikipedia/Mazbin CC BY-SA 3.0
05.05.2024 / FULDA -
Else Urys "Nesthäkchen-Reihe" zählte zu den Lieblingsbüchern meiner Mutter, auch ich las sie natürlich. Aber mein Ury-Aha-Moment kam erst viele Jahrzehnte später, als ich ein Foto mit einer Gedenkplakette für Else Ury auf dem Berliner Friedhof Weißensee sah. Moment mal? Jüdischer Friedhof? Die Ury –Jüdin? Das war eine sehr unerwartete Begegnung mit der deutschen Vergangenheit. Ich musste schwer schlucken. Else Urys Geschichten haben den Zweiten Weltkrieg überlebt – sie selbst nicht. Auch wenn sie die bürgerlichste, deutscheste, bekannteste und erfolgreichste Jugendbuch-Autorin des frühen 20. Jahrhunderts gewesen ist.
Was – die Ury war Jüdin?
Die bürgerlichste Jugendbuch-Autorin überhaupt
Else Ury begann früh mit dem Schreiben, die meisten ihrer Geschichten spielen in Berlin. Sie heiratete nie, ganz im Gegensatz zu Annemarie Braun, der Heldin ihrer Nesthäkchen-Serie. In keinem ihrer Bücher stehen unverheiratete Frauen im Mittelpunkt, bzw. sie stehen als ‚unverheiratet‘ nur insofern im Mittelpunkt, als dies ein transitorischer Zustand war. Unverheiratet bleiben Nebenfiguren – Dienstboten, Tanten, Lehrerinnen. Sehr oft haben aber genau diese Frauen auf die Kinder in den Romanen großen Einfluss. Auch Religion spielt in ihren Büchern keine Rolle, das jüdische Berlin taucht nirgends auf. Sehr wichtig hingegen ist die Bildung für Frauen. Die Ury teilte die Ideen und Ideale der Frauenbewegung und thematisiert das in ihren Büchern immer wieder. Für uns klingt das heute völlig normal – aber das war es damals nicht. Es war hochmodern. Man darf nicht vergessen, erst 1908 wurde in Preußen das Immatrikulationsverbot für Frauen aufgehoben.
Die Nesthäkchen-Serie, geschrieben zwischen 1912 und 1925, umfasst insgesamt zehn Bände, verkaufte sich millionenfach und machte die Ury zu einer wohlhabenden Frau. 1926 erfüllte sie sich einen Lebenstraum – ein Sommerhaus im schlesischen Krummhübel. "Haus Nesthäkchen" wird zum Feriendomizil der ganzen Familie.
Verfemt, verboten, ermordet
Man kann davon ausgehen, dass die Ury nicht einmal ansatzweise ahnte, dass sie als Jüdin bald verfemt und verfolgt werden sollte. 1935 wurde sie aus der Reichsschrifttum-Kammer ausgeschlossen, schreiben durfte sie fortan nicht mehr. Rassengesetze und andere Erlasse machten ihr das Leben schwer. Die Nationalsozialisten eigneten sich ihr Vermögen an, auch ihr Ferienhaus in Krummhübel. Sie wird aus ihrer Wohnung vertrieben und muss in ein sogenanntes ‚Judenhaus‘ in Moabit umziehen. Am 6. Januar 1943 wird Else Ury nach Auschwitz deportiert und dort am 13. Januar 1943 ermordet. Else Urys Leben "ist in all seinen Stationen entsetzlich exemplarisch für seit zwei bis drei Generationen assimilierte Juden im deutschen Kaiserreich, die sich für Bürger wie alle anderen hielten und sich nicht vorstellen konnten, dass ihr heiß geliebtes Vaterland sie ausstoßen und verraten könnte." (Sybil Gräfin Schönfeldt in der SZ vom 29.10.2015)
Leider keine harmlose Erfolgsgeschichte
Ach ja, "Nesthäkchen"! Ich habe mir also diese Serie wieder hervorgeholt, und noch eine andere der Ury, sie heißt "Professors Zwillinge". Die schenkte mir meine beste Freundin Agnes nach und nach zum Geburtstag. Weder in der einen noch in der anderen Reihe ist Aufrührerisches zu bemerken.
Ich verstehe heute besser, warum meine Mutter diese Bücher so liebte. Sie muss darin eine Ermutigung gespürt haben. Ich kann nachvollziehen, wieso die Reihe zum Mädchenbuch-Klassiker wurde und warum Mädchen sich mit der Heldin so identifizieren konnten. Ich habe Respekt vor Else Ury, die für sich etwas verwirklichte, was den meisten Frauen ihrer Generation verwehrt war – sie wurde durch ihre Arbeit berühmt und wohlhabend. Ihr liebevoller Blick auf ihre Heldin ist von tiefer Menschlichkeit erfüllt. Kluge, gebildete und selbstbewusste Frauen sind das Ideal Else Urys. Damit kann ich sehr viel anfangen.
P.S.: Es verwundert nicht, dass es ihre jungen Leserinnen waren, die in den 1990er Jahren auf Else Urys Schicksal aufmerksam wurden: Sie erkannten auf einem Koffer in einer Ausstellung in Auschwitz Urys Namen, der ihnen von der Nesthäkchen-Serie vertraut war. Sie recherchierten auf Deportationslisten und schrieben einen Bericht über ihre Entdeckung. Ihre Lehrerin erzählte alles einer Berliner Zeitung, und so wurde die Geschichte von Else Urys Ermordung endlich bekannt. (Jutta Hamberger)+++
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