Was wir lesen, was wir schauen (111)
Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard - Historie für Demokraten
© Wikipedia / Stendhal55, CC BY-SA 4.0
19.01.2025 / FULDA -
Vor kurzem konstatierte die FAZ, Lampedusas Roman "Il Gattopardo" sei Pflichtlektüre für Demokraten. Und erzählt etwas süffisant, dass Wolfgang Schäuble Friedrich Merz, der im Februar 2022 zum Parteivorsitzenden gewählt worden war, danach genau dieses Buch schenkte. Der gab es seinem Freund Schäuble nach einer Woche mit den Worten zurück: "Das ist ja ein Roman, was soll ich damit anfangen?"
Vom Wandel einer traditionellen Gesellschaftsordnung
Fortschritt ist gut?
Der Wert der eigenen Wurzeln
Der Roman ist von betörender Sinnlichkeit. Der Garten des Fürsten spiegelt den ehemaligen Glanz des Hauses Salina wider, aber wir riechen beim Lesen, dass der Verfall bereits begonnen hat. Familienmitglieder schlagen aus der Art, Rosensetzlinge auch, sogar die Hunde spüren das: "Erst hochgeschossen, dann zermürbt von den starken und drängenden Säften des sizilianischen Bodens, dazu verbrannt von der apokalyptischen Julisonne, hatten sie sich in eine Art obszön fleischfarbener Kohlköpfe verwandelt, die jedoch einen betäubenden, ja fast schamlosen Duft verströmten, den sich kein französischer Züchter zu erhoffen gewagt hätte. Der Fürst hielt sich eine unter die Nase, und ihm war, als rieche er am Schenkel einer Ballerina der Pariser Oper. Bendicò, dem er die Rose ebenfalls hinhielt, wich angeekelt zurück und beeilte sich, zwischen Düngerresten und toten Eidechsen nach gesünderen Sinneseindrücken zu suchen."
Eine (un)passende Liebesgeschichte
Während des Aufenthalts in der Sommerfrische im Schlösschen Donnafugata verliebt Tancredi sich in die schöne Angelica, Tochter des Provinzbürgermeisters Calogero Sedàra. Und auch diese Romanze beginnt unglaublich sinnlich – wir begleiten das Paar bei den verliebten Gängen durch den Palast mit seinen vielen Geheimnissen. Don Fabrizio willigt schließlich in die Eheschließung ein, er weiß, dass sein Neffe Geld braucht für seine Ambitionen. Dem opfert er auch das Glück seiner Tochter Concetta, die in Tancredi verliebt ist und auf die Ehe mit ihm gehofft hatte.
Von einem Happy End aber sind wir weit entfernt, Lampedusa gesteht weder seinen Figuren noch uns als Lesern klebrige Romantik zu. Im Gegenteil: Es herrscht so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Die Braut mag schön und reich, der Ehemann klug und ambitioniert sein, sie schaffen es nicht, aus ihren unterschiedlichen Talenten das Fundament einer guten Ehe zu bauen. Stattdessen Ehezwist: Angelica geht es nur um den sozialen Aufstieg, Tancredi nur um ihr Vermögen. Glücklich werden die beiden nicht. In ihrer Verbindung kreuzen sich die beiden zentralen gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit: Der Niedergang des Adels und der Aufstieg des Bürgertums.
Am Ende des vierten Romanteils analysiert der Fürst die Veränderungen und Nicht-Veränderungen um ihn herum: "Schlaf, lieber Chevalley, Schlaf ist das, was die Sizilianer wollen, und sie werden jeden hassen, der sie aufwecken will, sei’s auch, um ihnen die schönsten Geschenke zu bringen – und unter uns gesagt, ich bezweifle sehr, dass die neuen Herren viele Geschenke für uns im Gepäck haben."
Spätestens jetzt wissen Sie, warum dieses Buch Pflichtlektüre für uns Demokraten ist und die Unterschiede zwischen Sizilien und Deutschland gar nicht so groß sind. Gönnen Sie sich bitte auch Viscontis grandiose Verfilmung mit Burt Lancaster, Alain Delon und Claudia Cardinale – auf Youtube im italienischen Original zu sehen und als DVD erhältlich.
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
Was wir lesen, was wir schauen (110)
Ken Follett, Die Nadel - Spione wie wir
Was wir lesen, was wir schauen (109)
Colleen McCullough, Die Dornenvögel - Für das Beste muss man Opfer bringen
Was wir lesen, was wir schauen (108)
Barbara Robinson, Hilfe die Herdmanns kommen - He, euch ist ein Kind geboren
Was wir lesen, was wir schauen (107)
Eric Malpass, Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch