Was wir lesen, was wir schauen (132)

Astrid Lindgren, Bilder ihres Lebens - Heute nacht hat mir von dir geträumt

Astrid Lindgrens Wohnhaus in Vimmerby
Foto:© Wikipedia / W.A. 2.0 - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

07.12.2025 / FULDA - Es beginnt mit einer Erinnerung, ganz warm und schlicht. Liest man sie, versteht man sofort, warum Astrid Lindgren (1907-2002) Millionen Kinderherzen verzaubert hat. 1972 erzählt sie die Geschichte ihrer Eltern, Samuel August aus Sevedstorp und Hanna aus Hult. Diese Geschichte wählten Schwedens Rundfunkhörer:innen zur Liebesgeschichte des Jahrtausends.

Zärtliche Unerschrockenheit



Auf Deutsch erschien sie unter dem Titel "Das entschwundene Land", allerdings fehlen darin vier Kapitel der Originalausgabe, dafür gibt es zwei Kapitel, die sich nur in der deutschen Ausgabe finden. Es ist die Geschichte von zwei Menschen, die einander nicht nur liebten, sondern sich ihre Liebe auch schrieben. 114 Briefe sind erhalten, die wie die leise Chronik eines Glücks wirken, das nicht einmal die beiden selbst für selbstverständlich hielten. Lindgren zitiert daraus, mit spürbarer Rührung, fast staunend: Worte, die manchmal unbeholfen sind, manchmal glühend, aber immer ehrlich. Der junge Samuel August, der sich nach Hanna verzehrt. Hanna, die darauf vertraut, dass aus diesem Werben einmal ein gemeinsames Leben wird. Ein von Gott gesegnetes Leben. Die beiden, die trotz der viel zu langen Wartezeit auf eine gemeinsame Zukunft hoffen.

In diesen Briefen klingt eine zärtliche Unerschrockenheit und manchmal auch Unbotmäßigkeit an, die später allen Figuren Lindgrens innewohnt. Und die man in den deutschen Ausgaben manchmal mit der Lupe suchen muss. Schon bei "Pippi Langstrumpf" deutete sich das 1949 an, die deutsche Ausgabe wurde geglättet, pädagogisiert, und das nicht nur einmal. Mir selbst wurde das erst klar, als ich erstmals die schwedische Ausgabe las und dachte: Tralleri, Trallahey, das ist ja ein ganz anderes Buch als das, was ich bisher kannte! Erst ab 2009 kommen die deutschen Ausgaben dem schwedischen Original nahe. Meine Empfehlung lautet deshalb immer: Lesen Sie Lindgren möglichst im Original!

Mit der Erzählung der elterlichen Liebesgeschichte beginnt das großformatige Porträtbuch "Astrid Lindgren – Bilder ihres Lebens" und lässt spüren, wie tief diese frühe Erfahrung einer verlässlichen, humorvollen, unprätentiösen und zuversichtlichen Liebe in Lindgrens Erzählen eingeschrieben ist. Man blättert durch die Seiten nicht wie durch ein Museum, sondern wie durch ein Familienalbum, in dem jedes Foto ein Echo jener Briefe trägt: Die Selbstverständlichkeit des Vertrauens. Die Freiheit im Denken. Die Überzeugung, dass Menschen füreinander da sein können, ohne sich einzuengen.

Lindgrens literarischer Puls

Diese Grundstimmung erklärt, warum eine Figur wie Pippi Langstrumpf überhaupt entstehen konnte. Pippi ist ein Mädchen, das nie gelernt hat, Angst vor dem Leben zu haben: Sie ist selbstbewusst, sie lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern, sie tollt herum, sie ist stark aus sich heraus, auch wenn andere sie kritisieren. Sie traut sich etwas zu, und anderen Kindern auch. Aus genau diesem Urvertrauen entstehen Lindgrens Leitmotive: Kinder, die nicht klein gemacht werden, Kinder, die man ernst nehmen muss. Kinder, die gleichberechtigt sind. Erwachsene, die Fehler machen dürfen. Erwachsene, die Stärken und Schwächen haben. Und Kinder wie Erwachsene, die nicht Vollkommenheit voneinander einfordern, sondern Liebe. Lindgren beschreibt eine Welt, in der Stärke etwas mit Güte zu tun hat – und Güte etwas mit Mut.

Die Liebes- und Lebensgeschichte ihrer Eltern wird zum stillen Puls von Lindgrens literarischem Kosmos. In fast jedem ihrer Werke taucht eine Form dieser Liebe auf: Jonathan Löwe, der seinem jüngeren Bruder in "Die Brüder Löwenherz" beisteht, selbst im Angesicht des Todes. Denn: "Es gibt Dinge, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck", sagt Jonathan zu seinem kleinen Bruder Krümel. Ronjas Vater Mattis muss begreifen, dass Loslassen das Allerschwierigste in der Liebe ist. Und selbst Pippi, die frei und wild durch ihr Leben springt, tut das in dem unerschütterlichen Glauben daran, dass irgendwo ein Vater existiert, der sie liebt – auch wenn er selten da ist. Lindgrens Geschichten sagen es immer wieder: Liebe macht nicht klein. Sie macht stark. Die Geschichten machen aber auch klar: Nichts geht ohne diese Liebe.

Auch das steht schon in den Briefen der Eltern. Der Vater hat den Vortrag eines Redners gehört, der bezweifelte, dass es die wahre Liebe gäbe. Samuel August ist anderer Meinung und schreibt an Hanna: "Was wäre die Welt ohne Liebe. Es wäre wohl eine öde Wüste für den Wanderer durchs Leben, sich nie geliebt zu fühlen oder selber lieben zu dürfen oder zu können. Nein, du und ich wollen einander lieben mit ganzer, ungeschmälerter Liebe, um uns beiden das Leben dadurch so hold wie möglich zu machen." Am 30. Juni 1905 ist es endlich so weit, die beiden heiraten in der Kirche von Pelarne.

Kindheit als Raum der Möglichkeiten

Warum aber wird gerade diese Schriftstellerin, auch zwanzig Jahre nach ihrem Tod, noch immer so geliebt? Vielleicht, weil sie etwas konnte, was im 21. Jahrhundert fast eine verlorene Kunst geworden ist: Sie erzählte vom Leben, ohne es zu beschönigen, und vom Glück, ohne es zu banalisieren. Sie wusste, dass Kindheit kein Schonraum ist, aber ein Möglichkeitsraum. Sie traute Kindern zu, über Verlust, Angst und Ungerechtigkeit zu lesen, ohne daran zu zerbrechen. Lindgren war keine Idyllen-Malerin. Sie war eine Realistin, die Gegenwelten erfand, damit Kinder eine Sprache für ihr inneres Gleichgewicht finden konnten.

Heute, in einer Welt, die schneller und lauter geworden ist, erscheinen Lindgrens Bücher manchen wie ferne oder sogar unerreichbare Inseln. Der Titel eines ihrer liebevollsten Bücher, "Wir Kinder aus Bullerbü" wird oft für Idylle hergenommen und damit gründlich missverstanden. Lindgren beschrieb keine Idyllen. Ihre literarische Leistung ist es, immer wieder daran zu erinnern, wie eine Welt aussehen kann, die Kindern vertraut, statt sie zu überformen, zu überfordern oder zu vernachlässigen. Lindgren zeigt in ihren Figuren, wie Fantasie zum Schutzraum wird – sie ist keine Flucht, sondern eine Kraftquelle. Lindgrens Figuren fordern uns Erwachsene heraus, unseren moralischen Kompass immer wieder scharfzustellen – auf Mut, Gerechtigkeitssinn, Eigensinn, Freundlichkeit. Nichts davon ist altmodisch, alles davon ist überlebenswichtig.

Dieses wunderbare Buch zeigt all das, ganz ohne Pathos und ohne Überhöhung. Es zeigt eine Frau, die aus der Geschichte ihrer Eltern ihre Ethik des Erzählens entwickelte. Lindgren wusste, dass aus Vertrauen Freiheit entsteht – und aus Freiheit Geschichten, die Generationen begleiten. Dieser Faden zieht sich durch das Buch und zeigt, warum Lindgrens Bedeutung nicht verblasst, sondern wächst. Sie hat uns eine literarische Welt hinterlassen, die uns daran erinnert, wer wir sein könnten, wenn wir Samuel August und Hanna ein wenig ähnlicher wären. Und das ist ein leuchtendes Versprechen.

Zum Weiterlesen

Zur Geschichte der deutschen Übersetzung und Bearbeitung von Lindgrens "Pippi Langstrumpf": https://www.tralalit.de/2022/10/19/geliebt-geaendert-kritisiert-die-uebersetzung-von-pippi-langstrumpf/

Zum Verschenken

Sehr schöne Lindgren-Produkte – und natürlich ihre Bücher – finden Sie hier, auch in der Originalsprache: www.astridlindgren.com

(Jutta Hamberger)+++

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