Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
© Wikipedia
20.11.2022 / REGION -
Vor wenigen Tagen, am 11. November, jährte sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum 104. Mal. Der Krieg in der Ukraine dauert am heutigen Sonntag genau 270 Tage. Zwei sehr gute Gründe, einen der berühmtesten Antikriegsromane aller Zeiten aus dem Regal zu nehmen und wieder zu lesen. Nachdrücklicher als Remarque hat keiner die Sinnlosigkeit des Kriegs beschrieben.
Wir lagen neun Kilometer hinter der Front
Als sein Roman "Im Westen nichts Neues" 1929 erschien, wurde das Buch zum bis dahin größten Erfolg der deutschen Literatur, bereits ein Jahr später war eine Million Exemplare verkauft. Der Autor wurde von links wie von rechts angefeindet. Die Rechte sah in dem Roman den Versuch, die Frontsoldaten zu "beschmutzen", die Linke fand den Roman zu pazifistisch, weil er die Ursachen des Kriegs nicht darstelle. Die Nationalsozialisten schließlich bürgerten Remarque aus und verbrannten seine Bücher.
Im Roman steht eine Gruppe von acht Soldaten im Zentrum – vier sind ehemalige Schüler (Paul Bäumer, Albert, Leer und Müller), vier sind schon etwas älter und hatten vor dem Krieg einen Beruf (Kat, Tjaden, Haie, Detering). Die Schüler sind nach der begeisterten Kriegspropaganda ihres Lehrers Kantorek als Freiwillige in den Krieg gezogen – die ganze Klasse. Sie stellen schnell fest, dass nichts so ist, wie ihr Lehrer behauptet hat. Der Drill in der Ausbildung macht klar, dass an der Front weder Nachdenklichkeit noch Bildung gefragt sind. Besonders der Kasernenhoftyrann Himmelstoß zeichnet sich dadurch aus, die jungen Rekruten zu schikanieren und mit sinnlosen Drills zu überziehen.
Paul und den anderen jungen Soldaten wird schnell klar, dass die zuhause ihr Leben an der Front nicht verstehen können, es gibt keine Worte, um zu beschreiben, was sie erleben. Der Krieg entfremdet einander, die Daheimgebliebenen im Hinterland jenen, die an der Front sind, und umgekehrt. Die Soldaten wissen auch sehr schnell, dass sie nach dem Krieg nicht einfach so an ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen können. Eine Rückkehr ins bürgerliche Leben scheint ausgeschlossen. Das Grauen, das sie in so jungen Jahren erlebt haben, werden sie nie wieder vergessen können. Paul Bäumer: "Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflächlichkeit mit einem Abgrund des Leidens."
Erstarrt im Stellungskrieg
Man darf ja nicht vergessen: Die 750 km lange Westfront veränderte sich von 1914 bis 1918 kaum. Man grub sich ein, im Stellungskrieg waren die Geländegewinne nur minimal, mit ungeheuren Verlusten an Menschenleben erkauft und meist schnell wieder verloren. Dem gegenüber stand die Zerstörungskraft von Flammenwerfern, Granaten, Minen, Bomben und Panzern. Wo der Krieg tobte, blieben tiefe Granattrichter, tote Baumstümpfe und zerschossene Ortschaften zurück. Remarques Roman schildert das sachlich, wie eine Reportage, manchmal melancholisch, manchmal mit Emphase, immer hoffnungslos. Es geht nur darum, irgendwie zu überleben.
Ein einziges Mal sprechen die Soldaten über die Ursachen des Kriegs, bleiben aber an der Oberfläche, vielleicht auch, weil sie gelernt haben, dass zu viel Nachdenken schädlich fürs Überleben ist:
‚Weshalb ist dann überhaupt Krieg?’, fragt Tjaden.
Kat zuckt die Achseln. ‚Es muss Leute geben, denen der Krieg nützt.’
‚Na, ich gehöre nicht dazu’, grinst Tjaden.
‚Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter’, brummt Detering."
Im Westen nichts Neues
Die Soldaten sterben, einer nach dem anderen, Paul Bäumer als letzter im Oktober 1918 "an einem Tag, der so ruhig und so still war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden." Remarque hat seinen Roman nicht als politisches Buch verstanden und betont im Vorspann, der Roman sei weder eine Anklage noch ein Bekenntnis. Er wollte über eine Generation berichten, "die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam".
Die Leser:innen haben das verstanden, und doch immer auch die politische Dimension des Romans gesehen. Remarques Roman wurde zu dem Antikriegsbuch schlechthin, sein Titel synonym für das sinnlose Sterben des Einzelnen in Konflikten, die nicht er selbst, sondern andere ausgelöst haben, um davon zu profitieren. Heute ist "Im Westen nichts Neues" in ca. 50 Sprachen übersetzt, die weltweite Auflage liegt zwischen 20 und 40 Millionen Exemplaren.
Die erste Verfilmung von 1930
Der Amerikaner Lewis Milestone verfilmte den Roman als Erster, der Film wurde mit zwei Oscars ausgezeichnet (Bester Film, beste Regie). Der Film erhielt hervorragende Kritiken. Das Branchenblatt Variety meinte, dass der Völkerbund den Film auf der ganzen Welt und in jeder Sprache zeigen sollte, bis das Wort "Krieg" aus dem Wörterbuch gestrichen sei. Nur in Deutschland sah man den Film mit gemischten Gefühlen. Die Veteranenverbände waren in der Regel monarchistisch und sahen den Film als Angriff auf die einfachen Soldaten, die für das Vaterland in den Krieg gezogen waren. Gauleiter Goebbels fuhr eine massive und letztlich erfolgreiche Kampagne gegen den Film. Schließlich knickte die Filmprüfstelle ein und verbot den Film wegen seiner "ungehemmt pazifistischen Tendenzen". Der Film ist als DVD erhältlich.
Die aktuelle Verfilmung von 2022
Edward Berger schuf tatsächlich die erste deutsche Verfilmung des Romans. Der Film tritt als deutscher Kandidat für die Oscars 2023 an. Berger über seinen Film: "Anders als bei amerikanischen oder britischen Werken kann es bei einem deutschen Kriegsfilm das Gefühl der Glorifizierung nicht geben. Bei uns dürfen wir keine Heldengeschichte erzählen, es geht immer um Trauer, Scham, Schuld und Terror. Und natürlich gibt es nichts, worauf man stolz sein kann in diesen Kriegen."
Die SZ kritisierte, dass der Regisseur den Zusammenhang von Film und Roman aufgelöst habe – herausgekommen sei zwar ein Kriegsfilm oder Antikriegsfilm, aber keine Verfilmung von "Im Westen nichts Neues". Berger habe nach Belieben Personen hinzugefügt oder weggelassen, und den Schluss so verändert, dass Titel und Inhalt keine Verbindung mehr hätten. Die Verfilmung ist auf Netflix abrufbar.
Weiterführende Links
Über Erich Maria Remarque: https://www.sueddeutsche.de/politik/erich-maria-remarque-im-ersten-weltkrieg-sechs-wochen-in-der-hoelle-1.1921119
Remarque to go: https://www.youtube.com/watch?v=81OOuTRtwnk
Wer war Remarque?: https://www.youtube.com/watch?v=N8QOQ8BFPGw
Der Krieg in den Schützengräben: https://www.youtube.com/watch?v=a508gsM4H8o
Interview Daniel Brühl zur Neuverfilmung: https://www.youtube.com/watch?v=Rs9IlelVwbg
Felix Kammerer zur Neuverfilmung: https://www.youtube.com/watch?v=ZMUOUvKfvyY
(Jutta Hamberger)+++
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch