Was wir lesen, was wir schauen (57)

Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt

Hans Baluschek, Die Vernichtung - Illustration aus „Der Krieg 1914 bis 1916“
© Wikipedia

20.11.2022 / REGION - Vor wenigen Tagen, am 11. November, jährte sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum 104. Mal. Der Krieg in der Ukraine dauert am heutigen Sonntag genau 270 Tage. Zwei sehr gute Gründe, einen der berühmtesten Antikriegsromane aller Zeiten aus dem Regal zu nehmen und wieder zu lesen. Nachdrücklicher als Remarque hat keiner die Sinnlosigkeit des Kriegs beschrieben.



Wir lagen neun Kilometer hinter der Front

Als sein Roman "Im Westen nichts Neues" 1929 erschien, wurde das Buch zum bis dahin größten Erfolg der deutschen Literatur, bereits ein Jahr später war eine Million Exemplare verkauft. Der Autor wurde von links wie von rechts angefeindet. Die Rechte sah in dem Roman den Versuch, die Frontsoldaten zu "beschmutzen", die Linke fand den Roman zu pazifistisch, weil er die Ursachen des Kriegs nicht darstelle. Die Nationalsozialisten schließlich bürgerten Remarque aus und verbrannten seine Bücher.

Remarque wurde als junger Mann im November 1916 nach einem Notexamen als Reservist eingezogen und kam im Juni 1917 an die Westfront. Ende 1917 wurde er mehrfach verwundet und verbrachte den Rest des Kriegs in einem Lazarett. Dort sprach er mit verwundeten Soldaten, recherchierte in deren Briefen und Tagebüchern.

Im Roman steht eine Gruppe von acht Soldaten im Zentrum – vier sind ehemalige Schüler (Paul Bäumer, Albert, Leer und Müller), vier sind schon etwas älter und hatten vor dem Krieg einen Beruf (Kat, Tjaden, Haie, Detering). Die Schüler sind nach der begeisterten Kriegspropaganda ihres Lehrers Kantorek als Freiwillige in den Krieg gezogen – die ganze Klasse. Sie stellen schnell fest, dass nichts so ist, wie ihr Lehrer behauptet hat. Der Drill in der Ausbildung macht klar, dass an der Front weder Nachdenklichkeit noch Bildung gefragt sind. Besonders der Kasernenhoftyrann Himmelstoß zeichnet sich dadurch aus, die jungen Rekruten zu schikanieren und mit sinnlosen Drills zu überziehen.

Die verlorene Generation

Paul und den anderen jungen Soldaten wird schnell klar, dass die zuhause ihr Leben an der Front nicht verstehen können, es gibt keine Worte, um zu beschreiben, was sie erleben. Der Krieg entfremdet einander, die Daheimgebliebenen im Hinterland jenen, die an der Front sind, und umgekehrt. Die Soldaten wissen auch sehr schnell, dass sie nach dem Krieg nicht einfach so an ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen können. Eine Rückkehr ins bürgerliche Leben scheint ausgeschlossen. Das Grauen, das sie in so jungen Jahren erlebt haben, werden sie nie wieder vergessen können. Paul Bäumer: "Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflächlichkeit mit einem Abgrund des Leidens."

Erstarrt im Stellungskrieg

Dazwischen schieben sich immer wieder die Schilderungen von Angriffen, Schanzen, Gas, Hunger, Gestank, der miesen medizinischen Versorgung, der Angst und dem täglichen Kampf ums Überleben. Wer im Graben und an vorderster Front stand, der verstand schnell, wie wenig die Kriegspropaganda mit der Realität zu tun hatte. Im Schlamm steckend, von Läusen gequält, dreckig, hungrig und übermüdet, vom andauernden Stellungskrieg zermürbt, kamen sie sich ganz sicher nicht als strahlende Verteidiger des Vaterlands vor, sondern als Material, das erbarmungslos verschlissen wurde.

Man darf ja nicht vergessen: Die 750 km lange Westfront veränderte sich von 1914 bis 1918 kaum. Man grub sich ein, im Stellungskrieg waren die Geländegewinne nur minimal, mit ungeheuren Verlusten an Menschenleben erkauft und meist schnell wieder verloren. Dem gegenüber stand die Zerstörungskraft von Flammenwerfern, Granaten, Minen, Bomben und Panzern. Wo der Krieg tobte, blieben tiefe Granattrichter, tote Baumstümpfe und zerschossene Ortschaften zurück. Remarques Roman schildert das sachlich, wie eine Reportage, manchmal melancholisch, manchmal mit Emphase, immer hoffnungslos. Es geht nur darum, irgendwie zu überleben.

Ein einziges Mal sprechen die Soldaten über die Ursachen des Kriegs, bleiben aber an der Oberfläche, vielleicht auch, weil sie gelernt haben, dass zu viel Nachdenken schädlich fürs Überleben ist:

‚Weshalb ist dann überhaupt Krieg?’, fragt Tjaden.

Kat zuckt die Achseln. ‚Es muss Leute geben, denen der Krieg nützt.’

‚Na, ich gehöre nicht dazu’, grinst Tjaden.

‚Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter’, brummt Detering."

Im Westen nichts Neues

Die Soldaten sterben, einer nach dem anderen, Paul Bäumer als letzter im Oktober 1918 "an einem Tag, der so ruhig und so still war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden." Remarque hat seinen Roman nicht als politisches Buch verstanden und betont im Vorspann, der Roman sei weder eine Anklage noch ein Bekenntnis. Er wollte über eine Generation berichten, "die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam".

Die Leser:innen haben das verstanden, und doch immer auch die politische Dimension des Romans gesehen. Remarques Roman wurde zu dem Antikriegsbuch schlechthin, sein Titel synonym für das sinnlose Sterben des Einzelnen in Konflikten, die nicht er selbst, sondern andere ausgelöst haben, um davon zu profitieren. Heute ist "Im Westen nichts Neues" in ca. 50 Sprachen übersetzt, die weltweite Auflage liegt zwischen 20 und 40 Millionen Exemplaren.

Die erste Verfilmung von 1930

Der Amerikaner Lewis Milestone verfilmte den Roman als Erster, der Film wurde mit zwei Oscars ausgezeichnet (Bester Film, beste Regie). Der Film erhielt hervorragende Kritiken. Das Branchenblatt Variety meinte, dass der Völkerbund den Film auf der ganzen Welt und in jeder Sprache zeigen sollte, bis das Wort "Krieg" aus dem Wörterbuch gestrichen sei. Nur in Deutschland sah man den Film mit gemischten Gefühlen. Die Veteranenverbände waren in der Regel monarchistisch und sahen den Film als Angriff auf die einfachen Soldaten, die für das Vaterland in den Krieg gezogen waren. Gauleiter Goebbels fuhr eine massive und letztlich erfolgreiche Kampagne gegen den Film. Schließlich knickte die Filmprüfstelle ein und verbot den Film wegen seiner "ungehemmt pazifistischen Tendenzen". Der Film ist als DVD erhältlich.

Die aktuelle Verfilmung von 2022

Edward Berger schuf tatsächlich die erste deutsche Verfilmung des Romans. Der Film tritt als deutscher Kandidat für die Oscars 2023 an. Berger über seinen Film: "Anders als bei amerikanischen oder britischen Werken kann es bei einem deutschen Kriegsfilm das Gefühl der Glorifizierung nicht geben. Bei uns dürfen wir keine Heldengeschichte erzählen, es geht immer um Trauer, Scham, Schuld und Terror. Und natürlich gibt es nichts, worauf man stolz sein kann in diesen Kriegen."

Die SZ kritisierte, dass der Regisseur den Zusammenhang von Film und Roman aufgelöst habe – herausgekommen sei zwar ein Kriegsfilm oder Antikriegsfilm, aber keine Verfilmung von "Im Westen nichts Neues". Berger habe nach Belieben Personen hinzugefügt oder weggelassen, und den Schluss so verändert, dass Titel und Inhalt keine Verbindung mehr hätten. Die Verfilmung ist auf Netflix abrufbar.

Weiterführende Links

Über Erich Maria Remarque: https://www.sueddeutsche.de/politik/erich-maria-remarque-im-ersten-weltkrieg-sechs-wochen-in-der-hoelle-1.1921119

Remarque to go: https://www.youtube.com/watch?v=81OOuTRtwnk

Wer war Remarque?: https://www.youtube.com/watch?v=N8QOQ8BFPGw

Der Krieg in den Schützengräben: https://www.youtube.com/watch?v=a508gsM4H8o

Interview Daniel Brühl zur Neuverfilmung: https://www.youtube.com/watch?v=Rs9IlelVwbg

Felix Kammerer zur Neuverfilmung: https://www.youtube.com/watch?v=ZMUOUvKfvyY
(Jutta Hamberger)+++

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