Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
© Wikipedia / Artur Weidmann
19.03.2023 / REGION -
Ein Hotel kann viel mehr sein als nur Übernachtungsort für Geschäftsreisende oder Urlauber. Wer von diesem möglichen ‚mehr‘ etwas erhaschen möchte, dem lege ich Vicki Baums Roman "Menschen im Hotel" ans Herz.
Der Bestseller der 1920er Jahre
1929 wurde dieses Buch sofort zu einem Riesenerfolg. 100 Jahre später ist das immer noch so, und das ist der Qualität dieses Buchs geschuldet. Im Zentrum steht ein mondänes Grand Hotel in Berlin, Vorbild könnte das Excelsior gewesen sein, Vicki Baum hat später auch das Bristol genannt – beide Hotels wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Wir befinden uns mitten in den goldenen Zwanziger Jahren. Wir nehmen diese Jahre oft nur als glamourös wahr, dabei waren sie extrem widersprüchlich. Es gab ungeheure Fortschritte in Wissenschaft, Medizin und Technik. Die Menschen erlebten die vielen Veränderungen und Neuerungen als tiefgreifend, faszinierend, aber auch erschreckend. Gleichzeitig zerbrach die sicher geglaubte gesellschaftliche Ordnung, Wertvorstellungen gerieten ins Wanken. In den Großstädten entstand ein Proletariat, das sich kaum über Wasser halten konnte. Der Roman spart nichts davon aus.
In Vicki Baums Hotel treffen Menschen aufeinander, die sich im wirklichen Leben niemals begegnen würden, da sie in völlig unterschiedlichen Welten leben. Die alternde Primaballerina Grusinskaya sehnt sich nach dem Erfolg früherer Jahre zurück. Der zwielichtige und verarmte Baron von Gaigern hält sich mit Diebstählen über Wasser. Statt die Perlen der Grusinskaya zu stehlen, verliebt er sich in sie. Der sterbenskranke Hilfsbuchhalter Kringelein will einmal im Leben auf die Pauke hauen und zur feinen Gesellschaft gehören. Im Hotel trifft er auf seinen Chef, Generaldirektor Preysing, der hofft, ein großes Geschäft für seine Strickwarenfabrik abschließen zu können – wenn nicht, ist die Firma nämlich Geschichte. Nicht zu vergessen Flämmchen, die sich als Sekretärin, Nacktmodell und Herrenbegleitung durchschlägt. Mit Doktor Otternschlag gibt es auch einen Weltkriegsveteranen, der schwerverletzt und entstellt von der Front zurückkam und täglich seine Morphiumspritze braucht. Was sie alle eint, ist ihre Einsamkeit – und ihre verletzten Seelen.
Romane, die Menschen für eine bestimmte Zeit in einen geschlossenen Raum setzen und die Atmosphäre so verdichten, gibt es einige – von Agatha Christies "Und dann gab’s keines mehr" oder "Mord im Orientexpress" bis zu Thomas Manns "Zauberberg". Denn die Menschen verändern sich durch die möglich werdenden Begegnungen. Bei Vicki Baum heißt es: "Immer ist was los. Einer wird verhaftet, einer geht tot, einer reist ab, einer kommt. Den einen tragen sie per Bahre über die Hintertreppe davon, und zugleich wird dem anderen ein Kind geboren. Hochinteressant eigentlich. Aber so ist das Leben."
Keiner verlässt das Hotel so, wie er es betreten hat: "Was im großen Hotel erlebt wird, das sind keine runden, vollen, abgeschlossenen Schicksale. Es sind nur Bruchstücke, Fetzen, Teile; hinter den Türen wohnen Menschen. gleichgültige oder merkwürdige, Menschen im Aufstieg, Menschen im Niedergang; Glückseligkeiten und Katastrophen wohnen Wand an Wand. Die Drehtür dreht sich, und was zwischen Ankunft und Abreise erlebt wird, das ist nichts Ganzes.”
Ein fast sezierender Blick
Was ich an diesem Buch so mag, ist der klare Blick, den Vicki Baum auf ihre Figuren wirft. Mit unnachahmlichem Geschick findet sie für jede den richtigen Ton – zwischen Berliner Schnauze, Melancholie, Devotion und Arroganz. Alle Figuren haben eine Geschichte hinter der Geschichte – etwas, das sie vorantreibt, Ängste, Leidenschaften, Krisen und Hoffnungen. Baum montiert dabei die Handlungsstränge, das ist ungemein filmisch. Alle Figuren sind echt, glaubhaft und faszinierend. Den Roman durchwehen gleichermaßen Nachdenklichkeit wie Mutterwitz.
Wir sind dabei, wenn Otto Kringelein das in Jahrzehnten mühsam ersparte Geld auf den Kopf haut – bei Champagner, Maßanzügen und Rundflügen über Berlin. Wir erleben, dass hinter der disziplinierten Fassade einer am Petersburger Marinskij Theater ausgebildeten Primaballerina eine sensible, verletzliche Frau steckt, die nichts sehnlicher wünscht als die romantische Liebe. Der Blick in die Abgründe von Dr. Otternschlags Seele wühlt uns auf – und wir fragen uns, wie dieser Mann es überhaupt schafft, weiterzuleben. Mit einer gewissen Häme erleben wir den Wandel des ach so rechtschaffenen Generaldirektors Preysing zu einem Kerl, der zwielichtige Geschäftspraktiken genauso goutiert wie Seitensprünge.
Immer wieder gibt es Momentaufnahmen von großer Tiefsinnigkeit, und die sind nicht unbedingt den Hauptfiguren vorbehalten. Besonders ans Herz gewachsen ist mir Flämmchen, deren wenige Szenen im Buch sicher zu den stärksten überhaupt zählen.
Vicki Baum verpackt Gesellschaftskritik in Unterhaltung, und in diesem Genre ist sie eine der ganz Großen. Sie selbst schätzte sich bescheiden als "erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte" ein. Sie schreibt lapidar und äußerst unterhaltsam – literarisch zwischen Kolportage und Neuer Sachlichkeit angesiedelt. Das gilt auch für ihre weiteren Werke, der der Verlag Kiepenheuer & Witsch seit 2021 in neugestalteten Neuausgaben herausbringt. Die von Barbara Thoben gestalteten Cover sind echte Hingucker, sie atmen den Geist der 20er Jahre. Noch ein guter Grund, Ihre Bibliothek mit Baum-Büchern aufzufüllen.
Extra: Zwei Verfilmungen und zwei Hotel-Serien
Grand Hotel (1932) – Regie: Edmund Goulding. Mit Greta Garbo, John Barrymore, Joan Crawford, Wallace Berry und Lionel Barrymore. Der Film war einer der größten Kinohits der 30er Jahre und erwirtschaftete trotz Weltwirtschaftskrise über 8 Millionen Dollar Gewinn. Bei den Oscars 1932 wurde er als "Bester Film" ausgezeichnet. Auch nach 90 Jahren hat er nichts von seiner Faszination verloren, das verdankt sich v.a. dem großartigen Schauspieler-Ensemble. Auf DVD und Blu-ray verfügbar.
Menschen im Hotel (1952) – Regie: Gottfried Reinhardt. Mit Michèle Morgan, Heinz Rühmann, Sonja Ziemann, O. W. Fischer und Gerd Fröbe. Gottfried Reinhardt ist zwar der Sohn des großen Max, verfügte aber nicht über dessen Kunstfertigkeit. So geriet dieser Film zu einer typischen 50er Jahre Schmonzette. Sehr betulich, und allenfalls etwas für Rühmann-Fans. Auf DVD und Blu-ray verfügbar.
Hotel Mondial (2022/23): Hotel-Serie. Wenn Sie sehen wollen, wie man das eigentlich unkaputtbare Thema Hotel beerdigt, dann schauen Sie mal ins Hotel Mondial rein. Sie werden chargierende Schauspieler, banale Plots und eine Aneinanderreihung von Klischees erleben, alles mit einem Diversity-Woke-Anstrich übergossen, den man vermutlich für besonders "modern" hielt. In der ZDF-Mediathek abrufbar.
Girlfriends – Freundschaft mit Herz (1995 bis 2007): Das ZDF kann es viel besser. Für die "Girlfriends" legte Drehbuchautor Christian Pfannenschmidt den Fokus auf fünf Frauen mit ihren unterschiedlichen und sich stets kreuzenden Lebenswegen. Die Serie wurde mehrfach ausgezeichnet. In den Corona-Jahren war sie auf Wunsch vieler Zuschauer/innen wieder in der ZDF-Mediathek verfügbar – genau das richtige Mittel gegen die Alltags-Tristesse. Auf DVD erhältlich.
Jutta Hamberger)+++
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