Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Symbolbild: Pixabay
25.06.2023 / REGION -
Weil der Juni im Norden mit seinen langen Nächten und dem gerade erst gefeierten Mittsommerfest (24.06.) ein unvergleichlich schöner Monat ist, nehme ich das als Anstoß, Sie heute literarisch nach Schweden zu entführen und Ihnen einen Klassiker vorzustellen.
Das schönste Schulbuch der Welt
Genauso wichtig für den Erfolg ist aber die ungewöhnliche Erzählform, für die Lagerlöf sich entschied. Sie wählte für die Darstellung Schwedens die Vogelperspektive. Weil große wie kleine Leserinnen eine Identifikationsfigur brauchen, erfand sie den 14-jährigen Nils, der mit seinen Eltern auf einem südschwedischen Bauernhof lebt. Weil er Tiere quält, faul ist, seinen Eltern viel Kummer bereitet und ein richtiger Nichtsnutz ist, wird er zur Strafe in einen Wichtel (schwedisch "tomte") verwandelt. Die Hoftiere, die das mitbekommen, sehen ihre Chance gekommen, sich endlich an Nils für alle Quälereien zu rächen. Nur der Gänserich Martin nimmt Nils in Schutz. Er hat Großes vor, denn er will sich den Wildgänsen anschließen. Nils will ihn daran hindern, aber er ist zu klein und zu leicht, es gelingt ihm nicht. So findet er sich auf Martins Rücken wieder und mitten unter den Wildgänsen.
Nach wenigen Tagen erfährt Akka von Kebnekaise, die alte und weise Anführerin der Wildgänse, dass Nils zu seinen Eltern zurück darf und wieder ein Mensch werden kann. Aber Nils will nicht, er will lieber mit den Gänsen reisen. Intuitiv versteht Nils, dass er diese Reise machen muss. Er lernt dabei die Natur, die Landschaften, die Geschichte, die Kultur und die Städte Schwedens kennen und muss sich immer wieder bewähren. Man kann seine Verwandlung in einen Wichtel als Symbol für die Pubertät sehen, in der sich der Wandel vom Kind zum Erwachsenen vollzieht, mit allen dazugehörigen Identitätskrisen. Und die Pubertät kann man weder überspringen noch auslassen, man muss sich ihr stellen. Wenn Nils am Ende seine Menschengestalt zurückerhält, heißt das, dass er seinen Platz in der Welt gefunden hat.
Weil aber nicht nur Jungen ihr Buch lesen sollten, entwickelt Selma Lagerlöf eine Parallelhandlung mit einer weiblichen Heldin, dem Bauernmädchen Åsa und deren kleinem Bruder Mats. Diese Geschichte scheint zunächst alles andere als kindgerecht, denn hier geht es um Krankheit, Tod, Einsamkeit, Aberglaube, abgrundtiefe Verzweiflung und Not. Es ist aber auch eine Geschichte, in der sich der grund-optimistische Geist der Autorin mit ihrer aufklärerischen Attitüde verbindet. Und eine, in der sie die dunklen Seiten des Fortschritts mit aller Härte und Grellheit darstellt.
Autobiografische Bezüge
Die Geschichte vom weißen Gänserich, der sich den Wildgänsen anschließt, beruht auf einer wahren Begebenheit. In ihrer 1922 erschienenen Biografie "Mårbacka" – benannt nach dem Herrenhaus im värmländischen Sunne, in dem sie geboren wurde und auch starb – berichtet Selma Lagerlöf, dass sich zur Zeit ihres Urgroßvaters Pastor Wennerwik im Frühling ein zahmer weißer Gänserich den ziehenden Wildgänsen angeschlossen hatte und im Herbst mit Frau und sieben Kindern zurückgekehrt sei. Alle neun Gänse wurden geschlachtet – in "Nils Holgersson" geht die Geschichte glücklicherweise anders aus.
Ihr Elternhaus Mårbacka genauso wie sie selbst tauchen im Kapitel "Ein kleiner Herrenhof" ebenfalls im Roman auf. Eine Besucherin von Mårbacka (= Selma Lagerlöf) rettet Nils vor einer hungrigen Eule, woraufhin er ihr vom Abenteuer seiner Reise durch Schweden erzählt. Die Besucherin des Guts soll für Kinder ein Buch über Schweden schreiben, hat aber noch keine zündende Idee, wie sie das anfangen soll. Nils‘ Erzählung wird so zum Konzept ihres Buchs.
Von zeitloser Modernität
Niemand verstand die wahre Seele Schwedens besser als Selma Lagerlöf. Nie wurde ein schöneres Schulbuch geschrieben. Wie schade, dass es nicht zur Blaupause für Kultusministerien und Schulbuchverlage in aller Welt wurde.
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