Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
© Wikipedia / BrianLiano CC BY 2.0
14.07.2024 / FULDA -
Lew Archer ist Humanist und Menschenfreund. Aber einer, der die Menschen nur allzugut kennt. So sagt er einmal: "Die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Gegenwart. Die Leute starten früh auf dem Weg des Verbrechens. Und sie beginnen genauso früh auf der Straße der Opfer. Wenn sich die beiden Straßen kreuzen, geschieht ein brutales Verbrechen." Die feine Linie dazwischen entscheidet über Unschuld und Schuld.
Die Dreifaltigkeit des amerikanischen Thrillers
Zum 100. Geburtstag frisch polierte Neuübersetzung
Der Verlag selbst sagt zu den Neuübersetzungen: "Übersetzungen altern bekanntlich schneller als Originale. Da es sich um einen Lieblingsautoren von Donna Leon handelt, die auch eine Diogenes-Autorin ist, wollen wir Ross Macdonald ebenfalls in seiner ganzen Modernität neu vorstellen. Auch im Deutschen können wir mittlerweile sehr knappe und wenige Sätze machen. Die alten Übersetzungen sind durchaus tauglich. Doch in der Neuübersetzung von Singelmann, der auch Monty Python und Bo Fowler übersetzt hat, wirken die Texte wie heute geschrieben."
Eine Frau muss gerettet werden
Wie in fast allen Romanen Macdonalds ist auch in "Schwarzgeld" (1966) der Kern der Erzählung eine "damsel in distress" – ein Mädchen in einer Notlage, aus der sie dringend errettet werden muss. Ein anderes, auch hier auftauchendes Leitmotiv sind zerrüttete Familien, die sowohl am Rand der Gesellschaft als auch in den höchsten Kreisen vorkommen. In "Schwarzgeld" wird Archer von Peter Jamieson, einem Sohn aus sehr reichem Elternhaus damit beauftragt, seine Ex-Verlobte Ginnie Fablon davon zu überzeugen, dass ihr neuer Freund Francis Martel nicht der Richtige für sie ist. Eine Routine-Aufgabe also. Archer wäre aber nicht Archer, wenn er nicht weiter nach vorn und nach hinten schaute als sein Auftraggeber. Und natürlich hat er auch diesmal den richtigen Riecher. So steigert sich die Komplexität des Falls beständig. Uns Leser:innen wird früh klar: hier stehen viele ansehnliche Fassaden herum, hinter denen es deutlich weniger gesittet und rechtschaffen zugeht, als die Bewohner uns glauben machen wollen.
Das alles erzählt Macdonald angenehm gewaltfrei. Mit unerbittlicher Langsamkeit entwickelt sich vor unseren Augen ein veritables Familiendrama. Nicht nur eins, mindestens drei. Männer, die ihre Karriere in den Sand gesetzt haben und sich jetzt mit Kleinklein begnügen müssen. Männer, die ihr Geld und das ihrer Ehefrau durchgebracht und im Leben nichts Vernünftiges geleistet haben. Männer, die wegen ihres geerbten Reichtums noch nie im Leben arbeiten mussten. Männer, die auf sehr junge Mädchen stehen. Männer, die immer kriegen, was sie wollen. Männer, die einem Traum hinterherjagen wie Francis Martel, über den Archer sagt: "Wieder im Auto kam mir der Gedanke, dass Martel einer jener gefährlichen Träumer war, die ihre Träume ausleben, ein Lügner, der seine Lügen mit aller Gewalt wahr werden ließ."
Und Frauen, die sehen müssen, wo sie bleiben, "unerweckte Dornröschen, eingesperrt in einem bescheidenen Häuschen mit einem launischen Professor, der es nicht geschafft hatte, Karriere zu machen." Frauen, "die das Missgeschick der Schönheit nicht unbeschadet überstanden haben" – wie Ginny Falblon und Kitty Hendricks. Frauen, die ihre Gerissenheit hinter vorgetäuschter Unschuld verstecken. Zwar billigt das Leben Frauen in den 60ern mehr Freiheiten zu als in den Jahrzehnten zuvor, die meisten laufen aber nach wie vor einem traditionellen Familien- und Frauenideal hinterher. So bleiben sie abhängig von ihren Männern. Es sind Frauen, die sich irgendwann in ihrem Leben fragen, "wo die Welt abgeblieben ist." Man kann "Schwarzgeld" auch als Auseinandersetzung mit dem Amerikanischen Traum lesen – der noch nie und schon gleich gar nicht für alle leicht zu realisieren war.
Als Archer den Fall gelöst hat, bleibt viel Unordnung und Leid zurück. Drei Morde geschahen in sieben Jahren. Das Puzzle der Vergangenheit ist zwar gelöst, ein besserer Ort ist die Welt deshalb aber nicht geworden. Mit Lakonie fasst Archer seine Lebensphilosophie zusammen: "Ich bemühe mich nur, kein Weltverschlechterer zu sein." Man könnte sehr viel schlechtere Motti haben.
Weiterführende Links
https://www.loa.org/writers/272-ross-macdonald/
https://crimereads.com/ross-macdonald-revival/
https://www.seattletimes.com/entertainment/books/why-you-should-get-reacquainted-with-mystery-novelist-ross-macdonald/
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-podcast-paul-ingendaay-und-donna-leon-feiern-ross-macdonald-17994919.html
https://www.bleisatz.blog/ross-macdonald-ein-meister-des-plots/
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