Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Fotos: © Wikipedia
03.03.2024 / FULDA -
2024 ist ein Kästner-Jahr. Am 23. Februar haben wir seinen 125. Geburtstag gefeiert, im Juli dann feiern wir seinen 50. Todestag. Erich Kästner war ein Multi-Talent. Er schrieb Gedichte, Kinderbücher und Bücher für Erwachsene, er arbeitete als Journalist und Kabarettist.
"Asphaltliterat" in der inneren Emigration
Goebbels ermöglichte Kästner, unter Pseudonym und oft als Co-Autor für Drehbücher weiter Stoffe für die Unterhaltungsindustrie zu liefern – er war einfach zu gut, um auf ihn zu verzichten. Ein Beispiel dieser Kooperation ist "Drei Männer im Schnee". Von seinen Lesern wurde Kästner immer geschätzt, für die Literaturwissenschaft gilt das nicht unbedingt. Was die Literaturwissenschaft ihm vorwarf, adelte ihn in den Augen seiner Leserschaft: Kästner schrieb unterhaltsam und so, dass man es sofort verstand. "Er war sehr erfolgreich, er wurde – wie seine Zeitgenossen Tucholsky, Ringelnatz, Fallada und Zuckmayer – ein typischer Volksschriftsteller. Also misstraute man ihm", so Marcel Reich-Ranicki.
"Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen,
mich lässt die Heimat nicht fort.
Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –
Wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt."
Endlich kluge, statt dauernd nur brave Kinder
Zu Kästners produktivsten Jahren gehören die von 1927 bis 1933 – das ist die Zeit, in der "Emil und die Detektive" entstand – sein erstes Kinderbuch, das auf Anhieb ein Riesenerfolg war. Es war für die damalige Zeit ungewöhnlich, weil es in der Großstadt Berlin und nicht in einer ländlichen oder kleinstädtischen Idylle spielte.
Mit Emil schuft Kästner den Prototyp des klugen, aufgeweckten und mutigen Kinds, das genau weiß, wie es leben möchte. Das ist meilenweit entfernt von den ‚Zurichtungsbüchern‘ der Wilhelminischen Zeit, der Weimarer Republik und natürlich auch der NS-Zeit, deren Ideal Kinder waren, die man nicht sah und hörte und die parierten. Bei Kästner ist die Welt der Kinder immer die gute Welt – und damit der diametrale Gegensatz zur Welt der Erwachsenen.
Allerdings beginnt "Emil" gar nicht mit der Emil-Geschichte. Die ersten 23 Seiten sind ein Musterbeispiel für Kästners Stil, Humor und Doppelbödigkeit. "Emil" beginnt nämlich mit einem Südsee-Roman, den der Autor schreiben will. Das Projekt scheitert, weil er nicht daraufkommt, wieviele Beine ein Walfisch hat. Mit dem schnieken Oberkellner Nietenführ diskutiert er, ob man wirklich alles gesehen haben müsse, über was man schreibt (man wird sich nicht einig in diesem Punkt). Aber der Herr Nietenführ gibt den entscheidenden Hinweis: "Das Beste wird sein, Sie schreiben über Sachen, die Sie kennen. Also von der Untergrundbahn und Hotels und solchem Zeug. Und von Kindern, wie sie Ihnen täglich an der Nase vorbeilaufen, und wie wir früher einmal selber welche waren." Der Herr Nietenführ also ist schuld an der Emil-Geschichte. Die Hauptfiguren und zentrale Orte des Geschehens werden vorgestellt – von einem Eisenbahnabteil über Herrn Grundeis mit dem steifen Hut bis zu Emils Kusine Pony Hütchen und einem Hotel am Nollendorfplatz. Nicht zu vergessen Gustav mit der Hupe, eine Bankfiliale, Emils Großmutter und eine große Berliner Zeitung.
Auf nach Berlin
In den Sommerferien soll Emil zu seiner Tante Martha nach Berlin fahren. 140 Mark gibt ihm die Mutter, 120 für die Großmutter, der Rest ist Emils Reisekasse. Es ist das erste Mal, dass Emil allein verreist – was seiner Mutter aber mehr Kummer bereitet als ihm.
Im Zug wird ihm von einem Mitreisenden sein Geld gestohlen, Emil ist entsetzt, er weiß nur zu gut, wie lange seine Mutter dafür geschuftet hat. Glück im Unglück – er sieht, wo der Dieb aussteigt und macht sich auf die Verfolgungsjagd. "Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Unk kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte, und warum er nicht wusste, wo er aussteigen sollte. Vier Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Niemand will von den Sorgen des anderen etwas wissen. Jeder hat mit seinen eigenen Sorgen und Freuden genug zu tun. (…) Was würde werden? Emil schluckte schwer. Und fühlte sich sehr, sehr allein."
Parole Emil – Gustav organisiert die Bande
Gut, dass Emil von Gustav mit der Hupe gefunden wird, und der sofort Helfer organisiert. Ist ja klar, dass ein Junge allein es nicht schaffen kann, in der Großstadt einen Dieb zu schnappen. Aber 20 Kinder mit einem Startkapital von 5,70 Mark sind dazu in der Lage, den Dieb, der im Café Josty Eier im Glas verspeist, zu verfolgen. Schnell ist eine Postenkette aufgestellt, der Nachrichtendienst organisiert, eine Telefonzentrale und ein Bereitschaftsdienst eingerichtet. Jeder der Jungen hat eine Aufgabe, jeder ein besonderes Talent, sie halten zusammen und erledigen ihren Job.
Gewitzt und mit viel kreativem Talent, um auf alle möglichen und unmöglichen Situationen zu reagieren, verfolgen die Kinder den Dieb bis zu dem Hotel, in dem er absteigt. Sie schaffen es, Herrn Grundeis, der natürlich ganz anders heißt, zu überführen. Emil bekommt sein Geld zurück, und obendrein noch eine Belohnung, denn der feine Dieb hatte noch ganz andere Diebstähle auf dem Kerbholz. Und so bleibt als einziges Opfer der Blumenstrauß für die Großmutter, der sich an einem Tag ohne Wasser leider in Dörrobst verwandelt hat.
Musterknabe statt Lausejunge
Gleich in seinem ersten Kinderbuch findet Kästner seinen Ton – leicht, humorvoll, ironisch, natürlich auch mit Berliner Schnauze. Die Kinder sind die Helden, alle Erwachsenen höchstens Nebenfiguren. So, wie Emil und seine Detektive den Dieb stellen, war auch Kästner davon überzeugt, dass Kinder etwas bewegen und verändern können. Emil ist kein Lausejunge, im Gegenteil, er ist ein Musterknabe, aber einer von der freiwilligen Sorte. Und wer ihn Muttersöhnchen nenne, den schmeiße er an die Wand. In einem Nachtgespräch erklärt er es dem Professor:
"Ist Deine Mutter eigentlich sehr streng?", fragte der Professor.
"Meine Mutter?", fragte Emil. "Aber keine Spur. Sie erlaubt mir alles. Aber ich tu’s nicht. Verstehst Du?"
"Nein", erklärte der Professor offen, "das verstehe ich nicht."
Für mich ist das eine der berührendsten und gleichzeitig spannendsten Erklärungen, wie man Ich-Sein und Wir-Verantwortung in Einklang bringt – auch, weil so klar wird, dass dies eine aus inneren Antrieben getroffene Entscheidung ist. Emils soziales Empfinden ist intrinsisch motiviert.
Emil und eigentlich die ganze Detektivbande ist hilfsbereit, klug und mutig. Sie treten für das Recht des Einzelnen und für Gerechtigkeit ein – ja, der Geist der Weimarer Verfassung weht durch dieses Buch. Wir sind hier weit weg vom ‚Vermassungs‘-Ideal des NS-Staates, und noch viel weiter vom Aushebeln jeglicher Rechtsordnung durch das Dritte Reich. In diesem Kästner-Jahr empfiehlt es sich wirklich, "Emil und die Detektive" aus dem Kinderzimmer zu mopsen und sich damit zur vergnüglichen Lektüre zurückzuziehen. Sie werden es nicht nur nicht bereuen, vermutlich bekommen Sie gleich auch noch Lust auf viel mehr Kästner.
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