Was wir lesen, was wir schauen (64)

Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held

Typische Straße in den USA – auf so einer Straße steht Reacher häufig und wartet darauf, per Anhalter mitgenommen zu werden
Symbolbilder: pixabay

05.03.2023 / REGION - Ich mochte diesen baumlangen Kerl von der ersten Seite an. Ich mag Reachers verwickelte Geschichte – mit seiner Vergangenheit in der Army und der Gegenwart als Supertramp. Ich mag seine Marotten. Ich mag, dass er nicht rumquasselt. Reacher gehört zu meinen Helden. Absolut notwendige Lektüre.



Ein Mann reitet in eine Stadt

Keiner der Reacher-Romane spielt in einer Großstadt, sondern immer irgendwo in der Weite Amerikas. Da, wo es nicht schön ist, dort, wohin Touristen sich niemals verirren, dorthin, wo es runtergekommen, ärmlich und verzweifelt ist. Auf seinen Kreuz- und Querreisen durch Amerika trifft Reacher unentwegt auf Verbrecher, die guten, einfachen Leuten das Leben zur Hölle machen. Er muss einfach eingreifen, er kann nicht anders.

Vielleicht kennt der eine oder andere von Ihnen das Western-Lexikon von Joe Hembus? 1975 erschien es – und ist bis heute DAS Standardwerk zum Western. Ich habe sehr oft parallel geguckt und bei Hembus nachgelesen, wie er die Filme bewertet hat. Ihm verdanke ich mein Faible für dieses Genre. Warum ich Ihnen das erzähle? Nun, Jack Reacher ist im Grunde seines Herzens ein Westernheld alter Schule, so einer, wie sie von John Wayne oder Gary Cooper, James Stewart und Robert Mitchum verkörpert wurden. Knorrige Männer, wortkarg, mit einem klaren Sinn für Gerechtigkeit, auch an Orten oder in Situationen, wo ihnen das Nachteile bringt. Sie vertrauen nicht auf die Justiz, sie sind die Justiz. Gleichzeitig sind sie aber auch Kavaliere, jede "damsel in distress" wird gerettet.

Lonesome Hobo

In jedem Reacher-Roman gibt es früher oder später ein hart arbeitendes Mädel, das Reacher aus Bedrängnis errettet und die für die Dauer der Handlung zu seinem love interest oder sidekick wird. Auch hier klingt ein Western-Topos durch, die sogenannte "frontier woman", die ihre Frau steht, in einer durch und durch von Männern bestimmten Welt, aber hin und wieder auch vor diesen Kerlen gerettet werden muss. Das ist archaisch und anti-modern, und hat doch etwas ungemein Tröstliches. Reacher ist ritterlich, und welche Frau kann dem schon widerstehen?

Jeder Roman endet im Grunde wie "Mein großer Freund Shane". So wie Alan Ladd in den Sonnenuntergang reitet, verlässt auch Reacher jeden Ort und die Menschen, die er für kurze Zeit ins Herz geschlossen hat. Er selbst bezeichnet sich als "Hobo", als einen, der herumreist, zwischendurch arbeitet, aber aus Prinzip niemals sesshaft wird und keinen Wert auf materielle Güter legt.

Reacher, der härteste amerikanische Held

Child sagt über seinen Helden: "Ich machte Reacher zu einem Ex-Offizier, weil ich an Vertreibung und Entfremdung interessiert war, und mir war aufgefallen, dass Menschen, die ihr Leben beim Militär verbracht haben, Schwierigkeiten haben, sich an das zivile Leben zu gewöhnen. Es ist, als würde man auf einen anderen Planeten ziehen. (…) Er bleibt distanziert, unruhig, verwirrt, nicht überzeugt – und immer allein. Der letzte Teil hatte seinen Preis. Die meisten Serienhelden haben Partner, Freunde, Jobs, Häuser oder Wohnungen, Lieblingsbars und -restaurants, Autos, Rechnungen, Nachbarn, Familie und sogar Hunde und Katzen. Denn die meisten Serien sind Seifenopern – und das meine ich keineswegs abwertend."  

Child setzt erkennbar auf eine andere Erzähltradition, in der es um den fahrenden Ritter, mysteriöse Fremde oder Einzelgänger geht. In seinem Essay "Helden" setzt Lee Child sich mit der Figur des Helden auseinander und fragt sich, warum wir Helden so lieben. Im wirklichen Leben können wir unsere Probleme oft nicht lösen, und das schafft Frustrationen. Immer wieder fühlt man sich als Opfer. Von Helden zu hören, stärkt uns. Child dazu: "Du liest Bücher und schaust Filme und Fernsehen, um Teil des Gegenteils zu sein. Wenn es ein Reacher-Buch ist, bekommen die Jungs, die Dein Auto gestohlen haben, einen Schlag auf den Kopf. Auf der Seite oder dem Bildschirm haben Sie vor nichts Angst. Sie können das Richtige tun."

Genau wie Reacher. Der löst Probleme, aber eben nicht intellektuell, sondern actionbetont. Die Probleme, die auftauchen, sind nicht der Dritte Weltkrieg oder irgendein durchgeknallter Irrer, der die Welt in Geiselhaft nimmt. Es sind "High Street"-Probleme, wie sie an jedem Ort der Welt existieren, es sind Probleme, die uns nah sind, die wir sofort verstehen und verorten können. Genauso zufällig, wie Reacher an einem Ort ankommt, wird er Teil eines Problems, das irgendjemand in diesem Ort hat. Immer gerät er in Situationen, in denen er sich verteidigen muss und/oder jemandem beisteht, dem Unrecht widerfährt. Darauf können wir Leser uns verlassen. Genauso wie auf diesen Jack Reacher, der sich immer treu bleibt.

Archaische Grimmigkeit

Im Internet existiert eine Kurzbeschreibung der Reacher-Serie, die mir gut gefällt: "Dies ist eine Krimi-Reihe, in der der Detektiv mehr Morde verübt als er aufklärt." Stimmt. Dieser Reacher hat eine archaische Grimmigkeit, er fackelt nicht lange. Er hat aber auch einen ausgeprägten Überlebenswillen, der ihn jede Situation analysieren lässt – er stürzt sich nie kopfüber ins Verderben, sondern nutzt seine Stärken gnadenlos aus.

Es ist ein Prinzip dieser Serie, dass die Probleme zu Reacher kommen, er sucht nicht danach. In "Hyänen" steigt er aus dem Greyhound-Bus, um zu verhindern, dass ein Jugendlicher einen alten Mann bestiehlt, der offensichtlich eine größere Menge Bargeld bei sich hat. Und damit beginnt das eigentliche Problem. Denn als Reacher versteht, in welcher Notlage der gute Mr. Shevnick ist, kann er gar nicht anders, als ihm zu helfen. Und dann entfaltet sich von Seite zu Seite das Drama dieser amerikanischen Mittelstadt im Irgendwo, die von zwei rivalisierenden Banden beherrscht wird. Die Polizei hat längst aufgegeben oder steht ohnehin auf der Lohnliste, und alle anständigen Leute versuchen, sich irgendwie durchzuschlagen. Wozu gehört, die Augen fest vor dem zu verschließen, was um sie herum geschieht.

Auch das gehört zu einem Reacher-Roman: Am Schluss ist die Stadt aufgeräumt. Die Bösen haben gekriegt, was sie verdienen, die Guten eine neue Chance auf ihr Leben. Reacher kann den Greyhound in den Sonnenuntergang nehmen. Es gibt noch viele Städte, die einen wie ihn brauchen.
Weiterführende Links

Website Autor: https://www.jackreacher.com/us/

Über Reacher als Held: https://www.cargo-film.de/heft/8/buch/literatur/attraktive-abstraktion/

Porträt des Autors: https://www.evolver.at/stories/Lee_Child_Portraet/

https://allnewspress.com/deutsch/lee-child-daruber-warum-wir-alle-nach-einem-helden-wie-jack-reacher-ausschau-halten-bucher-entertainment/

https://titel-kulturmagazin.net/2020/04/19/roman-lee-child-der-ermittler/

https://www.thebigthrill.org/2020/10/up-close-lee-child-and-andrew-child/

https://www.nytimes.com/2009/05/14/books/14masl.html
(Jutta Hamberger)+++

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