Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
© Wikipedia / Kazimierz Mendlik CC BY-S 3.0
23.07.2023 / REGION -
Mit dem Roman "Auf Ehre und Gewissen", dem vierten Roman der Lynley-Serie, lernte ich Elizabeth George 1990 kennen und lieben. Ich war von der ersten Seite an fasziniert und freute mich auf jede neue George. Denn die waren Garanten für hochkarätige Spannung, klug inszenierte Plots und Nebenfiguren, die das ‚neben‘ genauso wenig verdient haben wie die "actors in a supporting role" beim Oscar.
Britishness made in America
Jeder Lynley-Krimi spielt an einem anderen Ort, in einem Interview hat Elizabeth George einmal verraten, sie suche immer Orte aus, die sie möge, sonst würde es für sie nicht funktionieren. Es sind Orte, die wir als typisch britisch klassifizieren würden, und immer geht es auch um typisch britische Gepflogenheiten oder Eigenarten von Hobbys bis Sport. Meine Faszination wuchs, als ich feststellte, dass wir es hier mit einer wahren Mimikry-Höchstleistung zu tun haben.
Warum England? Elizabeth George hat über ihre Wahl in einem Spiegel-Interview einmal gesagt: "Ich mag Großbritannien sehr. Seine Geschichte, Traditionen, seine Schriftsteller, die Landschaft, die alten Bauwerke. Es ist so wunderbar anders als Amerika. Das englische Klassensystem und den Snobismus kann ich zwar nicht leiden, aber darüber ziehe ich in meinen Romanen her. Für mich lautet die Frage daher nicht, warum ich über England schreibe, sondern warum nicht jeder darüber schreibt." Ich füge hinzu, in England ist der Kontrast zwischen Idylle und Verbrechen, zwischen Status und wahrem Charakter besonders gut herauszuarbeiten – und es gibt einfach mehr Atmosphäre als in den USA. Außerdem gibt es großartige Crime-Lady-Vorbilder wie z.B. Agatha Christie, Dorothy Sayers, P.D. James, Val McDermid, Anne Perry oder Ruth Rendell.
Alle zwei Jahre zuverlässig ein neuer Bestseller von Elizabeth George. Das lief so bis zum Jahr 2008, als "Doch die Sünde ist scharlachrot" herauskam, nur ein Jahr nach dem Vorgängerroman "Am Ende war die Tat", in dem Lynleys hochschwangere Frau Helen ermordet wird. Dass Lynley nicht einfach weiter ermitteln konnte wie bisher, versteht sich. Warum die Autorin aber statt eines Krimis eine zähe, sozialwissenschaftlich verbrämte Abhandlung über die Mörder Helens und Lynleys Selbst-Therapie an der Küste Cornwalls schrieb und ihre beiden Hauptfiguren in diesem Roman so gut wie keine Rolle spielen, erschloss sich mir nicht. Anderen auch nicht, es dürfte das am schlechtesten verkaufte Buch der Serie sein.
Elizabeth George hatte vielleicht das Gefühl, sie müsse der Welt beweisen, mehr schreiben zu können als ‚nur‘ Krimis. Ich bin bestimmt nicht allein mit meiner Einschätzung, dass eine hervorragende Krimi-Autorin genau dafür geliebt, geachtet und bewundert wird. Wir Leserinnen sind nämlich sehr klug: Wir wollen zwar immer wieder das Gleiche, das aber immer wieder neu. Das garantierte die Marke Elizabeth George. Bei mir kühlte die Liebe nach diesem Sündenfall stark ab. Nach 2008 las ich ihre Bücher nicht mehr mit Leselust, sondern eher aus einem Vervollständigungs- und Pflichtgefühl heraus, und auch nicht notwendig sofort bei Erscheinen. Auch die Autorin brauchte einige Romane lang, um halbwegs wieder auf ihre Flughöhe zu kommen.
Das ungleiche Paar
Für mich war das Verhältnis zwischen Lynley und Havers immer einer der spannendsten Aspekte der Serie. Es entwickelt sich in dem Maß, wie der Respekt vor der Leistung des anderen wächst. Erst durch ihre verschiedenen Sichtweisen können diese beiden so unterschiedlichen Menschen die Fälle aufklären. Die Amerikanerin George paart vermutlich sehr bewusst ausgerechnet einen Absolventen des elitären Bildungssystems mit einer Frau aus der Arbeiterklasse. Zwar schert Lynley sich weder um Titel noch um Reichtum, aber er hat eben beides und geht mit der Selbstverständlichkeit und Nonchalance der "upper class" damit um.
Der gesellschaftliche Gegensatz – reich, adelig, mit Bentley und Butler einerseits, working class aus Acton und gerade so über die Runden kommend andererseits – ist sehr reizvoll, vielleicht auch, weil er eine gesellschaftliche Utopie beschreibt: Klassenschranken sind überwindbar. Sie sind es bei genauerem Hinsehen nicht einmal in diesen Romanen. Außerhalb der Polizeiarbeit bleiben die Welten von Havers und Lynley so weit voneinander entfernt wie der Nord- vom Südpol, bei aller Sympathie füreinander. George schafft es, dass wir beide sofort ins Herz schließen. In den Romanen erfahren wir viel über ihr Privatleben, ihre Sehnsüchte und Wünsche, ihre Alpträume und ihre Verzweiflung. Nicht nur bei diesen beiden, auch bei allen anderen Personen zeigt George sich immer wieder als Meisterin der psychologischen Figurenzeichnung.
Einblicke in ein archaisches System
Der Leiter der Schule, John Corntel, holt seinen früheren Schulfreund Lynley zur Hilfe, denn ein 13-jähriger Schüler wird vermisst. Kurz darauf wird er auf einem Friedhof gefunden, die Leiche weist Spuren von Folterung auf. Die beiden Ermittler stehen zunächst vor einer Mauer des Schweigens, bei den Lehrern genauso wie bei den Schülern. Der Ehrenkodex der Schüler, nur ja keinen zu verpetzen, setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang. Lynley kennt diesen Schulkodex von seiner Zeit in Eton nur zu genau, für Barbara Havers aber, die aus einfachen Verhältnissen kommt und eine staatliche Schule besucht hat, ist das eine fremde, nicht zugängliche Welt: "Darauf läuft’s doch hinaus, nicht? Die Wahrheit aus Loyalität zu den Mitschülern verschweigen. Erbärmlich, wirklich. Was bringen diese prächtigen Schulen für armselige Geschöpfe hervor." Allmählich erst setzt sich das Bild zusammen, und, wie sich das gehört, führen viele Informationen in die Irre und nicht zur Lösung des Falls. George legt viele Fährten aus, man weiß bis zum Schluss nicht, wer der oder die Täter sind und warum sie Matthew ermordet haben.
Der Glaube der britischen Oberklasse an sich selbst
Neben der Aufklärung des Mords geht es mindestens so sehr auch um den kritischen Blick auf Englands elitäres Bildungssystem. Es ist eines, in dem die Elite unter sich bleibt, mit eigenen Regeln, undurchschaubar von außen – und wie andere, vergleichbare Systeme eine Brutstätte für Machtmissbrauch, Gewalt, Rassismus, Frauenverachtung und sexuelle Abartigkeiten. Früh schon wird klar, dass Matthew an der Schule gleich mehrfach Außenseiter war – als Stipendiat, als Kind aus einfachen Verhältnissen, als Eurasier.
Das englische Schulsystem holt einen brutalstmöglich auf den Boden der Tatsachen zurück: "Kein anderes westliches Land macht es seiner Unterschicht schwerer, nach oben zu kommen (…) Das Schulsystem ist eine der Hauptursachen dafür, dass die soziale Mobilität nicht nur auf niedrigem Niveau verharrt, sondern jedes Jahr weiter abnimmt." (FAZ, 16.07.2015) Ex Premier Boris Johnsons Schwester Rachel – angesehene Journalistin, Roman-Autorin und Brexit-Gegnerin – hat es einmal auf den Punkt gebracht: "Die Welt dieser Schulen steht für alles, was in der britischen Gesellschaft falsch läuft." Auch das können Sie in "Auf Ehre und Gewissen" mit wohligem Krimischauder nachlesen.
Weiterführende Links
Website Autorin: https://www.elizabeth-george.de/
Spiegel-Interview mit Elizabeth George vom 112.09.2007: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/krimi-autorin-elizabeth-george-nur-plot-ist-wie-popcorn-a-504847.html
FAZ-Artikel vom 16.07.2015 über britische Eliteschulen: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/campus/englands-top-internate-kein-paradies-eton-harrow-co-13694908.html
Spiegel-Artikel vom 02.08.2019 über Eton: https://www.spiegel.de/politik/britsches-elite-internat-eton-eine-politische-inzuchtanstalt-a-00000000-0002-0001-0000-000165218741
+++Jutta Hamberger+++
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