Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
© Wikipedia / Kazimierz Mendlik CC BY-S 3.0
23.07.2023 / REGION -
Mit dem Roman "Auf Ehre und Gewissen", dem vierten Roman der Lynley-Serie, lernte ich Elizabeth George 1990 kennen und lieben. Ich war von der ersten Seite an fasziniert und freute mich auf jede neue George. Denn die waren Garanten für hochkarätige Spannung, klug inszenierte Plots und Nebenfiguren, die das ‚neben‘ genauso wenig verdient haben wie die "actors in a supporting role" beim Oscar.
Britishness made in America
Alle zwei Jahre zuverlässig ein neuer Bestseller von Elizabeth George. Das lief so bis zum Jahr 2008, als "Doch die Sünde ist scharlachrot" herauskam, nur ein Jahr nach dem Vorgängerroman "Am Ende war die Tat", in dem Lynleys hochschwangere Frau Helen ermordet wird. Dass Lynley nicht einfach weiter ermitteln konnte wie bisher, versteht sich. Warum die Autorin aber statt eines Krimis eine zähe, sozialwissenschaftlich verbrämte Abhandlung über die Mörder Helens und Lynleys Selbst-Therapie an der Küste Cornwalls schrieb und ihre beiden Hauptfiguren in diesem Roman so gut wie keine Rolle spielen, erschloss sich mir nicht. Anderen auch nicht, es dürfte das am schlechtesten verkaufte Buch der Serie sein.
Das ungleiche Paar
Für mich war das Verhältnis zwischen Lynley und Havers immer einer der spannendsten Aspekte der Serie. Es entwickelt sich in dem Maß, wie der Respekt vor der Leistung des anderen wächst. Erst durch ihre verschiedenen Sichtweisen können diese beiden so unterschiedlichen Menschen die Fälle aufklären. Die Amerikanerin George paart vermutlich sehr bewusst ausgerechnet einen Absolventen des elitären Bildungssystems mit einer Frau aus der Arbeiterklasse. Zwar schert Lynley sich weder um Titel noch um Reichtum, aber er hat eben beides und geht mit der Selbstverständlichkeit und Nonchalance der "upper class" damit um.
Einblicke in ein archaisches System
Der Leiter der Schule, John Corntel, holt seinen früheren Schulfreund Lynley zur Hilfe, denn ein 13-jähriger Schüler wird vermisst. Kurz darauf wird er auf einem Friedhof gefunden, die Leiche weist Spuren von Folterung auf. Die beiden Ermittler stehen zunächst vor einer Mauer des Schweigens, bei den Lehrern genauso wie bei den Schülern. Der Ehrenkodex der Schüler, nur ja keinen zu verpetzen, setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang. Lynley kennt diesen Schulkodex von seiner Zeit in Eton nur zu genau, für Barbara Havers aber, die aus einfachen Verhältnissen kommt und eine staatliche Schule besucht hat, ist das eine fremde, nicht zugängliche Welt: "Darauf läuft’s doch hinaus, nicht? Die Wahrheit aus Loyalität zu den Mitschülern verschweigen. Erbärmlich, wirklich. Was bringen diese prächtigen Schulen für armselige Geschöpfe hervor." Allmählich erst setzt sich das Bild zusammen, und, wie sich das gehört, führen viele Informationen in die Irre und nicht zur Lösung des Falls. George legt viele Fährten aus, man weiß bis zum Schluss nicht, wer der oder die Täter sind und warum sie Matthew ermordet haben.
Der Glaube der britischen Oberklasse an sich selbst
Neben der Aufklärung des Mords geht es mindestens so sehr auch um den kritischen Blick auf Englands elitäres Bildungssystem. Es ist eines, in dem die Elite unter sich bleibt, mit eigenen Regeln, undurchschaubar von außen – und wie andere, vergleichbare Systeme eine Brutstätte für Machtmissbrauch, Gewalt, Rassismus, Frauenverachtung und sexuelle Abartigkeiten. Früh schon wird klar, dass Matthew an der Schule gleich mehrfach Außenseiter war – als Stipendiat, als Kind aus einfachen Verhältnissen, als Eurasier.
Weiterführende Links
Website Autorin: https://www.elizabeth-george.de/
Spiegel-Interview mit Elizabeth George vom 112.09.2007: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/krimi-autorin-elizabeth-george-nur-plot-ist-wie-popcorn-a-504847.html
FAZ-Artikel vom 16.07.2015 über britische Eliteschulen: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/campus/englands-top-internate-kein-paradies-eton-harrow-co-13694908.html
Spiegel-Artikel vom 02.08.2019 über Eton: https://www.spiegel.de/politik/britsches-elite-internat-eton-eine-politische-inzuchtanstalt-a-00000000-0002-0001-0000-000165218741
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch