Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
© Wikipedia/Christiaan Tonnis CC BY_SA 2.0
03.09.2023 / REGION -
Vor zwei Wochen küsste der spanische Fußball-Funktionär Rubiales die frisch gebackene Weltmeisterin Jennifer Hermoso vor Millionen von Zuschauern ohne deren Einwilligung auf den Mund. Die war überrumpelt, dann aber sagte sie mit aller Deutlichkeit: "Das hat mir nicht gefallen."
Was Männer für normal halten
Die WM endete so mit einem nicht zu entschuldigenden Kuss-Eklat. Die Stürmerin und ihre Kolleginnen forderten Konsequenzen, und fanden dabei weltweit Unterstützung. Man darf die Gegenfrage stellen: Hätte Luis Rubiales auch Iker Casillas oder Iniesta auf den Mund geküsst, als 2010 die Spanier die WM in Südafrika gewannen? Oder Angela Merkel beim WM-Triumph 2014 Kapitän Philip Lahm? Eben.
Alles eine Frage von Status und Geld
Der Blick der männlichen Experten
Wenn Männer das Fehlen großer Literatur von Autorinnen als Ausweis ihrer Minder-Begabung nehmen, so weist Virginia Woolf auf die Umstände hin, unter denen Frauen leben mussten und, sofern sie viel Kraft aufbrachten, schrieben. Sie nutzt dafür Shakespeares fiktive Schwester Judith, die so begabt war wie er, seine Theater-Leidenschaft teilte, aber als Frau weder an seiner Ausbildung und Bildung noch seiner Tätigkeit am Theater teilhaben konnte. Sie steht für all die Frauen, denen Männer vorschrieben, wie sie leben sollten und die deshalb ihre Potenziale nie nutzen konnten.
Woolf findet in den vielen Expertenbüchern viel Wut und Zorn, ihre Erklärung dafür haut einen noch heute um: Das männliche Ego braucht das weibliche als Spiegel, um selbst größer, schöner, stärker, klüger zu wirken. Es ist ein vermaledeiter Spiegel, denn er funktioniert nur, wenn einer größer und stärker und der andere im gleichen Maß kleiner und schwächer wird. Frauen abzuwerten, ist in den Augen dieser Experten also notwendig, um sich selbst aufzuwerten.
Sie sehen schon – leider ist dieser fast 100 Jahre alte Text nicht historisch, sondern noch immer brandaktuell. Bestimmt fallen Ihnen Beispiele aus jüngerer Zeit ein – etwa der Umgang mit Politikerinnen in den Sozialen Medien, der vor Hass, Sexismus, Morddrohungen, Beleidigungen nur so trieft. Frauen werden in allem strenger beurteilt, von der Frisur über die Klamotten bis hin zu ihren Äußerungen – und natürlich gilt das genauso auch für alle anderen Lebensbereiche jenseits des Internets. Ob es die Öffnung der Universitäten für Frauen war (1900), die Einführung des Wahlrechts für Frauen (1918), die erste weibliche Tagesschausprecherin (1976) oder die erste weibliche Schiri bei der Fußball-WM der Männer (2022) – stets waren diese Ereignisse begleitet von einem misogynen Männer-Chor, der um seine Privilegien fürchtete.
Was hätte Shakespeares Schwester geschrieben?
Wenn Sie Virginia Woolfs Essay noch nicht besitzen, ändern Sie es bitte, das Buch ist eine bereichernde Lektüre. Wenn Sie nicht das englische Original lesen wollen, empfehle ich Ihnen die Ausgabe des Kampa-Verlags mit der Übersetzung durch Antje Rávik-Strubel (Deutscher Buchpreis 2022). Sie hat auch ein sehr lesenswertes Nachwort zu Woolfs Essay geschrieben. Und: Machen Sie es wie Virginia Woolf: Gewöhnen wir uns die Freiheit an und haben wir den Mut, "genau das zu schreiben, was wir denken." Dann vielleicht wird Shakespeares Schwester, jene tote Poetin, die nie eine sein durfte, endlich lebendig – es wäre alle Mühe wert.
Weiterführende Links
Ein Zimmer für sich allein – Autorinnen feiern späte Erfolge: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-zimmer-fuer-sich-allein-autorinnen-feiern-spaete-erfolge-dlf-kultur-c24c4938-100.html
Virginia Woolfs Forderung bleibt aktuell: https://www.derstandard.de/story/2000125378777/virginia-woolfs-forderung-nach-einem-zimmer-fuer-sich-allein-bleibt
Zum Gender-Pay-Gap in Deutschland: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-GenderPayGap/_inhalt.html(Jutta Hamberger)+++
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