Was wir lesen, was wir schauen (112)
Victor Klemperer, LTI - Die Sprache bringt es an den Tag

© Wikipedia / Bundesarchiv, Bild 102-14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,
09.02.2025 / FULDA -
Er trägt einen großen Namen, der in der Kulturszene bis heute klingt. Sein Cousin war der Dirigent und Komponist Otto Klemperer – einer der besten Mozart-Dirigenten ever. Er war Onkel des Schauspielers Werner Klemperer, den viele als Kommandant Kling aus der US-Serie "Ein Käfig voller Helden" kennen dürften. Victor Klemperer war Publizist und Lektor in Berlin, ab 1920 Hochschulprofessor in Dresden. 1903 konvertierte er zum Protestantismus.
Sprachkorrumpierung als Zeichen der Inhumanität
Wenn Sprache das Denken vergiftet
Eine Arbeiterin namens Frieda schenkt Klemperer eines Tages einen Apfel, sie wusste, seine Frau war krank. Und fragt ihn dann: "Der Albert sagt, Ihre Frau ist eine Deutsche. Ist sie wirklich eine Deutsche?" "Die Freude am Apfel war dahin. Dieser Sancta-Simplizitas-Seele, die ganz unnazistisch und ganz menschlich empfand, war das Grundelement des nazistischen Gifts eingeflossen; sie identifizierte das Deutsche mit dem magischen Begriff des Arischen; es schien ihr kaum fasslich, dass mit mir, dem Fremden, eine Kreatur aus einer anderen Sparte des Tierreiches, eine Deutsche verheiratet sei, sie hatte ‚artfremd‘ und ‚deutschblütig‘ und ‚niederrassig‘ und ‚nordisch‘ und ‚Rassenschande‘ allzu oft gehört und nachgesprochen."
Klemperer bringt dafür viele Beispiele aus dem Alltag. So gleichen sich Geburts- und Todesanzeigen einander an in ihrer deutschtümelnden Überhöhung. Der "deutsche Gruß" ersetzt andere Grußformeln in Briefen. Die Kirchen werden bekämpft und Geistliche verhaftet, aber das Weihevolle, Mystizismus, Wunder, Vorsehung und Märtyrer übernimmt man gern. In "LTI" versammelt Klemperer kurze Essays, die man in beliebiger Reihenfolge lesen kann. Er entlarvt Sprache als Instrument der nationalsozialistischen Gleichschaltung – es ist wie eine andauernde Gehirnwäsche, der man sich kaum entziehen kann. Und deshalb verändert diese Sprache auch die gebräuchliche Alltagssprache immer stärker – was oder wie man spricht oder schreibt, so denkt man schließlich auch.
Der Wahrheitseffekt
Lügen erhalten auf diese Weise den Status von Wahrheit. Man spricht vom Wahrheitseffekt (engl. Illusory Truth Effect): Dass es ihn gibt, liegt an der Art und Weise, wie unser Hirn funktioniert. Es interpretiert nämlich Häufigkeit als Wichtigkeit und blendet folglich andere Informationen aus. Hören wir etwas immer wieder, halten wir es irgendwann für die Wahrheit. Wenn Sie so wollen, ist das die Blaupause für Verschwörungstheorien und Lügenmärchen. Sehr oft werden dabei Phrasen gedroschen. Das gesamte Dritte Reich funktionierte nach diesem Prinzip. Zum Wahrheitseffekt gehören immer auch Sündenböcke.
Schauen Sie nach Amerika – Donald Trump hat so oft von der gestohlenen Wahl gesprochen, dass viele Amerikaner es inzwischen glauben. In Deutschland reden wir zur Zeit so viel über Migration, dass man glauben könnte, dies sei unser größtes Problem. Ist es nicht – aber es ist das mit Abstand am häufigsten thematisierte. Und schon – schwups, schlägt der Wahrheitseffekt zu.
Den Trick kannte schon der römische Feldherr Cato. Der Satz, mit dem er jede Rede egal zu welchem Thema beendete, lautete nämlich: "Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!" (= Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss!) und führte letztlich zum Dritten Punischen Krieg.
Kann man sich dagegen immunisieren? Ja, kann man. Mal davon abgesehen, dass eine gute Allgemeinbildung hilft, ist es wichtig, sich vom Glauben wieder auf das Denken zu verlegen. Also: nachprüfen, Gegen-Checks machen, verschiedene Quellen konsultieren, Abstand nehmen von allen, die vor allem ‚hate speech‘ von sich geben und aufhetzen. Und: Lügen konsequent widersprechen. Klemperers Buch ist deswegen so hilfreich, weil es mit brutaler Ehrlichkeit aufzeigt, wie diskriminierende Sprache das Miteinander vergiftet und Ängste schürt. Im Nationalsozialismus war die Sprache der erste Schritt, Juden zu entmenschen. Dann wurden sie entrechtet, schließlich deportiert und ermordet. Sprachliche Verrohung öffnet immer das Tor zu weiteren Schandtaten. Das sollte uns sensibel machen für jegliches ausgrenzendes Sprechen.
Das Buch widmete Klemperer übrigens seiner Frau Eva, einer der stillen und deshalb in seinen Augen wahren Heldinnen: "Denn ohne Dich wäre heute dieses Buch nicht vorhanden und auch längst nicht mehr sein Schreiber."
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