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Victor Klemperer, LTI - Die Sprache bringt es an den Tag

 Ausgrenzung jüdischer Deutscher – SA-Mitglieder bekleben die Schaufenster eines jüdischen Geschäfts Ausgrenzung jüdischer Deutscher – SA-Mitglieder bekleben die Schaufenster eines jüdischen Geschäfts
© Wikipedia / Bundesarchiv, Bild 102-14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,

09.02.2025 / FULDA - Er trägt einen großen Namen, der in der Kulturszene bis heute klingt. Sein Cousin war der Dirigent und Komponist Otto Klemperer – einer der besten Mozart-Dirigenten ever. Er war Onkel des Schauspielers Werner Klemperer, den viele als Kommandant Kling aus der US-Serie "Ein Käfig voller Helden" kennen dürften. Victor Klemperer war Publizist und Lektor in Berlin, ab 1920 Hochschulprofessor in Dresden. 1903 konvertierte er zum Protestantismus.

Sprachkorrumpierung als Zeichen der Inhumanität



Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 waren all seine Verdienste ausgelöscht, sein Leben wurde durch antisemitische Gesetze mehr und mehr eingeengt und erschwert. In der nationalsozialistischen Nomenklatur galt Victor Klemperer als sogenannter ‚Geltungsjude‘, denn er war mit einer ‚Arierin‘ verheiratet. Eva Klemperer widerstand dem erheblichen Druck, der auf sie ausgeübt wurde, damit sie ihren Mann verlässt. Dessen Konversion zum Protestantismus galt im NS-Staat nichts, da Judentum als Rasse, nicht als Religion verstanden wurde.

Allein das Überleben des furchtbaren Bombenangriffs auf Dresden am 13. Februar 1945 und die abenteuerliche Flucht Klemperers in die Oberlausitz, nach Sachsen und Bayern wäre einen eigenen Bericht wert. Heute aber soll es um das Buch gehen, das Klemperer 1945 schrieb: "LTI – Lingua Tertiae Imperii", die Sprache des Dritten Reichs. Es erschien 1947 und ist bis heute eines der wichtigsten Referenzwerke, wenn man sich mit der Sprache von Faschisten auseinandersetzen möchte. Wir leben in Zeiten, in denen der Faschismus nicht nur in Deutschland wieder sein hässliches Haupt erhebt. Rechtes Gedankengut sickert auch in die Sprache anderer Parteien ein. Man könnte aus der Geschichte wissen, wohin das führt – man wird zum Mittäter in der Normalisierung rechten Gedankenguts. Es gibt also im Februar 2025 viele gute Gründe, sich mit Klemperers meisterlichem Buch auseinanderzusetzen.

Wenn Sprache das Denken vergiftet

Im Kapitel "An einem einzigen Arbeitstag" beschreibt Klemperer eine Szene aus der Fabrik für Briefumschläge und Papierbeutel, in der er zu arbeiten gezwungen wurde. Es war nicht einmal eine vom Nationalsozialismus durchdrungene Fabrik. "Der Chef gehörte der SS an, aber er tat für seine Juden, was irgend möglich war, er redete höflich mit ihnen, er ließ ihnen manchmal etwas aus der Kantinenküche zukommen." Die jüdischen Arbeiter wurden nach Möglichkeit von den ‚arischen‘ Arbeitern abgesondert, aber das wurde nicht sonderlich strikt gehandhabt.

Eine Arbeiterin namens Frieda schenkt Klemperer eines Tages einen Apfel, sie wusste, seine Frau war krank. Und fragt ihn dann: "Der Albert sagt, Ihre Frau ist eine Deutsche. Ist sie wirklich eine Deutsche?" "Die Freude am Apfel war dahin. Dieser Sancta-Simplizitas-Seele, die ganz unnazistisch und ganz menschlich empfand, war das Grundelement des nazistischen Gifts eingeflossen; sie identifizierte das Deutsche mit dem magischen Begriff des Arischen; es schien ihr kaum fasslich, dass mit mir, dem Fremden, eine Kreatur aus einer anderen Sparte des Tierreiches, eine Deutsche verheiratet sei, sie hatte ‚artfremd‘ und ‚deutschblütig‘ und ‚niederrassig‘ und ‚nordisch‘ und ‚Rassenschande‘ allzu oft gehört und nachgesprochen."

Das Gift der NS-Weltanschauung vergiftete das Denken und das Sprechen auch der Menschen, die sich damit nicht identifizierten. Die NS-Sprache grenzt aus, verunglimpft, diskriminiert, würdigt herab und ignoriert komplexe Zusammenhänge. Sie überhöht bestimmte Begriffe – meist aus den Begriffskontexten Nation, Heimat, Volk und Heldentum. Sie unterscheidet in ‚wir‘ und ‚die‘, sie scheut sich nicht davor, ganze Gruppen von Menschen zu entmenschlichen. Sie verteufelt das System und überhöht das Organische. Sie setzt auf Gefühl und Glauben statt auf Verstand und Wissen.

Klemperer bringt dafür viele Beispiele aus dem Alltag. So gleichen sich Geburts- und Todesanzeigen einander an in ihrer deutschtümelnden Überhöhung. Der "deutsche Gruß" ersetzt andere Grußformeln in Briefen. Die Kirchen werden bekämpft und Geistliche verhaftet, aber das Weihevolle, Mystizismus, Wunder, Vorsehung und Märtyrer übernimmt man gern. In "LTI" versammelt Klemperer kurze Essays, die man in beliebiger Reihenfolge lesen kann. Er entlarvt Sprache als Instrument der nationalsozialistischen Gleichschaltung – es ist wie eine andauernde Gehirnwäsche, der man sich kaum entziehen kann. Und deshalb verändert diese Sprache auch die gebräuchliche Alltagssprache immer stärker – was oder wie man spricht oder schreibt, so denkt man schließlich auch.

Der Wahrheitseffekt

Lügen erhalten auf diese Weise den Status von Wahrheit. Man spricht vom Wahrheitseffekt (engl. Illusory Truth Effect): Dass es ihn gibt, liegt an der Art und Weise, wie unser Hirn funktioniert. Es interpretiert nämlich Häufigkeit als Wichtigkeit und blendet folglich andere Informationen aus. Hören wir etwas immer wieder, halten wir es irgendwann für die Wahrheit. Wenn Sie so wollen, ist das die Blaupause für Verschwörungstheorien und Lügenmärchen. Sehr oft werden dabei Phrasen gedroschen. Das gesamte Dritte Reich funktionierte nach diesem Prinzip. Zum Wahrheitseffekt gehören immer auch Sündenböcke.

Schauen Sie nach Amerika – Donald Trump hat so oft von der gestohlenen Wahl gesprochen, dass viele Amerikaner es inzwischen glauben. In Deutschland reden wir zur Zeit so viel über Migration, dass man glauben könnte, dies sei unser größtes Problem. Ist es nicht – aber es ist das mit Abstand am häufigsten thematisierte. Und schon – schwups, schlägt der Wahrheitseffekt zu.

Den Trick kannte schon der römische Feldherr Cato. Der Satz, mit dem er jede Rede egal zu welchem Thema beendete, lautete nämlich: "Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!" (= Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss!) und führte letztlich zum Dritten Punischen Krieg.

Kann man sich dagegen immunisieren? Ja, kann man. Mal davon abgesehen, dass eine gute Allgemeinbildung hilft, ist es wichtig, sich vom Glauben wieder auf das Denken zu verlegen. Also: nachprüfen, Gegen-Checks machen, verschiedene Quellen konsultieren, Abstand nehmen von allen, die vor allem ‚hate speech‘ von sich geben und aufhetzen. Und: Lügen konsequent widersprechen. Klemperers Buch ist deswegen so hilfreich, weil es mit brutaler Ehrlichkeit aufzeigt, wie diskriminierende Sprache das Miteinander vergiftet und Ängste schürt. Im Nationalsozialismus war die Sprache der erste Schritt, Juden zu entmenschen. Dann wurden sie entrechtet, schließlich deportiert und ermordet. Sprachliche Verrohung öffnet immer das Tor zu weiteren Schandtaten. Das sollte uns sensibel machen für jegliches ausgrenzendes Sprechen.

Das Buch widmete Klemperer übrigens seiner Frau Eva, einer der stillen und deshalb in seinen Augen wahren Heldinnen: "Denn ohne Dich wäre heute dieses Buch nicht vorhanden und auch längst nicht mehr sein Schreiber."
(Jutta Hamberger)+++

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