Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
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11.08.2024 / FULDA -
Es gibt Bücher, deren Geschichte mindestens so verzaubert wie das Buch selbst. Auf "Ein Baum wächst in Brooklyn" trifft das zu. Zunächst wollte niemand Betty Smiths (1896-1972) Manuskript haben. Daraufhin bewarb sie sich bei einem Autoren-Wettbewerb, den der Verlag Harper & Brothers ausgeschrieben hatte. Ihr Text gefiel, der Cheflektor schlug ihr vor, das Sachbuch zu einem Roman umzuarbeiten und den Titel zu ändern – der Rest ist Geschichte. 1943 erschien das Buch, war aus dem Stand ein riesiger Erfolg und wurde für den Pulitzer Preis nominiert.
Bücher sind Waffen im Krieg der Ideen
Ein Baum als Symbol der Widerstandskraft
Täglich ein Buch
Jeden Samstag geht Francie in die Bibliothek, für sie ein Paradies. "Francie glaubte, in der Bücherei seien alle Bücher der Welt, und ihr Plan war, alle Bücher der Welt auch zu lesen. Sie las ein Buch pro Tag in alphabetischer Reihenfolge und übersprang auch nicht die trockenen. (…) Sie las alles, was sie finden konnte: Schund, Klassiker, Fahrpläne und die Preisliste beim Lebensmittelhändler. (…) Sie plante, alle Bücher noch einmal zu lesen, wenn sie mit Z durch war."
Nur samstags weicht sie von ihrer Lese-Routine ab und liest außerhalb der alphabetischen Reihenfolge – meist bittet sie die Bibliothekarin, ihr etwas zu empfehlen. Die interessiert sich nicht für Kinder und bekommt daher auch gar nicht mit, dass Francie jeden Tag ein Buch ausleiht und samstags sogar zwei. Ohne viel Engagement empfiehlt sie die immer gleichen zwei Bücher, die Geschichtensammlung "Wenn ich der König wär" von Justin Huntly McCarthy oder das romantisch-fantastische "Beverly of Graustark" von George Barr McCutcheon.
Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen
Der Roman verfolgt das Schicksal der beiden Kinder bis etwa zu ihrem 17. Lebensjahr, beide müssen früh arbeiten und Geld dazuverdienen. Natürlich wird die Liebesgeschichte von Francies Eltern Katie und Johnnie mit allen Höhen und Tiefen erzählt. Aber auch die weitverzweigte Familie wird vorgestellt mit ihren einzigartigen Charakteren, wobei der Schwerpunkt auf den Frauen liegt. Zwei Tanten werden besonders wichtig für die Kinder – einmal Tante Sissie, die älteste Schwester Katies. Sie hat nie Lesen gelernt, ist herzensgut und liebt Männer über alles. Sie heiratet mehrfach, hat dazwischen viele Liebhaber und schert sich nicht um das Naserümpfen mancher Nachbarn. Der Einfachheit halber nennt sie jeden ihrer Männer John. Sie wird zehnmal schwanger, aber jede Schwangerschaft endet mit einer Totgeburt. Tante Evie leidet unter ihrem faulen Ehemann Willie, der mit seinem Pferdewagen Milch ausfährt und von seinem Pferd gehasst wird. Als er einen Unfall erleidet, übernimmt sie den Job – und macht das zur Überraschung aller nicht nur gut, sondern viel besser als ihr Mann.
Bleib pragmatisch, und gib niemals Deine Träume auf
Brooklyner wissen, dass man pragmatisch und idealistisch sein muss, wenn man es im Leben zu etwas bringen will. Niemand in diesem Roman ist weinerlich oder zerfließt in Selbstmitleid. Sie packen an – ohne dabei ihre Träume aufzugeben. Kleine Träume werden nicht desavouiert, große Träume nicht für lächerlich erklärt. Francies unerschütterlicher Glaube an sich selbst und ein besseres Leben ist einfach ansteckend.
Immer wieder zeigt der Roman, um wie viel schwieriger es in den 1910er Jahren für Frauen war, die mit noch ganz anderen Hindernissen kämpfen mussten als ihre männlichen Zeitgenossen. Aber so wie der Götterbaum in Brooklyn wächst auch Francie trotz widriger Umstände und verwirklicht ihren Lebenstraum – sie wird Schriftstellerin. Auch wenn das Leben nicht immer einfach ist, ist das kein Grund, seine Lebensfreude zu verlieren. "Ein Baum wächst in Brooklyn" ist ein waschechter Feelgood-Roman, der aber nie seifig und rührselig wird, sondern ermutigt und gute Laune macht.
(Jutta Hamberger)+++
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