Was wir lesen, was wir schauen (99)

Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch

Williamsburg Bridge und Domino Park
© Wikipedia / Justicex07 CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=105189972

11.08.2024 / FULDA - Es gibt Bücher, deren Geschichte mindestens so verzaubert wie das Buch selbst. Auf "Ein Baum wächst in Brooklyn" trifft das zu. Zunächst wollte niemand Betty Smiths (1896-1972) Manuskript haben. Daraufhin bewarb sie sich bei einem Autoren-Wettbewerb, den der Verlag Harper & Brothers ausgeschrieben hatte. Ihr Text gefiel, der Cheflektor schlug ihr vor, das Sachbuch zu einem Roman umzuarbeiten und den Titel zu ändern – der Rest ist Geschichte. 1943 erschien das Buch, war aus dem Stand ein riesiger Erfolg und wurde für den Pulitzer Preis nominiert.

Bücher sind Waffen im Krieg der Ideen



Zum Erfolg trug bei, dass der Roman im Zweiten Weltkrieg als "Armed Services Edition" herauskam – als Taschenbuch in einer Soldaten-Edition, deren Größe auf die Uniformtaschen angepasst war. Die Soldaten liebten die handlichen Bücher. Ungefähr 1.300 verschiedene Fiction- und Non-Fiction-Titel verteilte das Council of Books in Wartime (CBW) und setzte damit auf die Unterhaltung der Soldaten. Es ging aber auch darum, sie politisch, historisch und militärisch zu erziehen und zu sensibilisieren. Der Slogan des Council of Books in Wartime CBW lautete: "Bücher sind Waffen im Krieg der Ideen."

Auf Betty Smith‘ Roman reagierten die Soldaten ebenso positiv wie ihre sonstigen Leser, ein Soldat schrieb ihr: "Ich kann die emotionale Reaktion nicht erklären, die in meinem toten Herzen stattfand. Auf einmal durchfloss mich Zutrauen, und ich konnte mir vorstellen, dass auch ein einfacher Mann wie ich eine Chance in dieser Welt hat."

Ein Baum als Symbol der Widerstandskraft

"Der eine Baum in Francies Garten hatte spitze Blätter an grünen Zweigen, die vom Ast abstrahlten und einen Baum bildeten, der wie viele aufgespannte grüne Schirme aussah. Manche nannten ihn den Götterbaum. Gleich, wo seine Samen hinfielen, wurde aus ihnen ein Baum, der sich himmelwärts mühte. Er wuchs auf bretterverschlagenen Grundstücken und verrotteten Müllhaufen, auch war er der einzige Baum, der durch Zement wuchs. Er wuchs üppig, aber nur in Stadtvierteln mit Mietskasernen. (…) Der Baum mochte die Armen."

Dieser Baum gleicht der Heldin des Romans, Francie Nolan. Wir lernen sie im Sommer 1912 als 11-Jährige kennen, sie lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder Neeley in Williamsburg/Brooklyn. Die Eltern sind arm – die Mutter ist Tochter österreichischer Einwanderer, der Vater Sohn irischer Einwanderer. Das Geld ist immer knapp, die Kinder müssen mithelfen, und doch achtet die Mutter darauf, dass beide auch etwas für später in ihre Spardose legen. Francie ist wissbegierig, etwas, das sie von ihrer Mutter Katie hat. Noch ist sie zu jung, um Pläne für die Zukunft zu schmieden, aber etwas zu lernen und aufs College zu gehen, gehören zu ihren Vorhaben. Ihr Vater Johnnie ist ein liebenswerter Taugenichts, zum Leben und harten Arbeiten nicht geeignet, dafür mit einer wunderschönen Stimme und Phantasie gesegnet, leider aber auch dem Alkohol zugeneigt. So hängt alles an der Mutter. Die will für ihre beiden Kinder ein besseres Leben – und damit dafür eine Grundlage gelegt wird, müssen beide täglich jeweils eine Seite aus der Bibel und aus Shakespeares Gesammelten Werken lesen.

Täglich ein Buch

Jeden Samstag geht Francie in die Bibliothek, für sie ein Paradies. "Francie glaubte, in der Bücherei seien alle Bücher der Welt, und ihr Plan war, alle Bücher der Welt auch zu lesen. Sie las ein Buch pro Tag in alphabetischer Reihenfolge und übersprang auch nicht die trockenen. (…) Sie las alles, was sie finden konnte: Schund, Klassiker, Fahrpläne und die Preisliste beim Lebensmittelhändler. (…) Sie plante, alle Bücher noch einmal zu lesen, wenn sie mit Z durch war."

Nur samstags weicht sie von ihrer Lese-Routine ab und liest außerhalb der alphabetischen Reihenfolge – meist bittet sie die Bibliothekarin, ihr etwas zu empfehlen. Die interessiert sich nicht für Kinder und bekommt daher auch gar nicht mit, dass Francie jeden Tag ein Buch ausleiht und samstags sogar zwei. Ohne viel Engagement empfiehlt sie die immer gleichen zwei Bücher, die Geschichtensammlung "Wenn ich der König wär" von Justin Huntly McCarthy oder das romantisch-fantastische "Beverly of Graustark" von George Barr McCutcheon.

Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen

Der Roman verfolgt das Schicksal der beiden Kinder bis etwa zu ihrem 17. Lebensjahr, beide müssen früh arbeiten und Geld dazuverdienen. Natürlich wird die Liebesgeschichte von Francies Eltern Katie und Johnnie mit allen Höhen und Tiefen erzählt. Aber auch die weitverzweigte Familie wird vorgestellt mit ihren einzigartigen Charakteren, wobei der Schwerpunkt auf den Frauen liegt. Zwei Tanten werden besonders wichtig für die Kinder – einmal Tante Sissie, die älteste Schwester Katies. Sie hat nie Lesen gelernt, ist herzensgut und liebt Männer über alles. Sie heiratet mehrfach, hat dazwischen viele Liebhaber und schert sich nicht um das Naserümpfen mancher Nachbarn. Der Einfachheit halber nennt sie jeden ihrer Männer John. Sie wird zehnmal schwanger, aber jede Schwangerschaft endet mit einer Totgeburt. Tante Evie leidet unter ihrem faulen Ehemann Willie, der mit seinem Pferdewagen Milch ausfährt und von seinem Pferd gehasst wird. Als er einen Unfall erleidet, übernimmt sie den Job – und macht das zur Überraschung aller nicht nur gut, sondern viel besser als ihr Mann.

Bleib pragmatisch, und gib niemals Deine Träume auf

Beharrlichkeit und Zähigkeit sind die Hauptthemen des Romans. Allen Charakteren geht es um den Aufstieg aus den ärmlichen Verhältnissen, sie glauben daran, dass sie es schaffen können. Die Schilderungen von Armut, Hunger, Kälte und Alkoholismus sind zwar realistisch, aber nie belehrend oder anklagend – Betty Smith überlässt es den Leser/innen, ihre Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen. Die Arroganz und Ignoranz reicher New Yorker wird nicht ausgeblendet, sondern ist so etwas wie die Negativfolie für die Geschichte um Francie.

Brooklyner wissen, dass man pragmatisch und idealistisch sein muss, wenn man es im Leben zu etwas bringen will. Niemand in diesem Roman ist weinerlich oder zerfließt in Selbstmitleid. Sie packen an – ohne dabei ihre Träume aufzugeben. Kleine Träume werden nicht desavouiert, große Träume nicht für lächerlich erklärt. Francies unerschütterlicher Glaube an sich selbst und ein besseres Leben ist einfach ansteckend.

Immer wieder zeigt der Roman, um wie viel schwieriger es in den 1910er Jahren für Frauen war, die mit noch ganz anderen Hindernissen kämpfen mussten als ihre männlichen Zeitgenossen. Aber so wie der Götterbaum in Brooklyn wächst auch Francie trotz widriger Umstände und verwirklicht ihren Lebenstraum – sie wird Schriftstellerin. Auch wenn das Leben nicht immer einfach ist, ist das kein Grund, seine Lebensfreude zu verlieren. "Ein Baum wächst in Brooklyn" ist ein waschechter Feelgood-Roman, der aber nie seifig und rührselig wird, sondern ermutigt und gute Laune macht.
(Jutta Hamberger)+++

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