Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
© Pixabay
03.12.2023 / FULDA -
Es ist kalt, nass und ungemütlich. Immerhin können wir uns jetzt am Weihnachtsmarkt und am Advent erfreuen, aber um diese Jahreszeit braucht man doch eine ordentliche Dosis verschiedenartiger Stimmungsaufheller. Wie wäre es mit einem Klassiker des "cosy crime", so recht geeignet für Couch, heißen Kakao oder Punsch und Plätzchen? Zumal Nicholas Blakes "Geheimnis von Dower House" mit Fug und Recht auch als Weihnachtskrimi bezeichnet werden kann.
Ein Hofdichter als Krimi-Autor
Ein Mord wird angekündigt
Alles könnte so schön sein, würde O’Brien nicht Drohbriefe erhalten, in denen er der Lüge bezichtigt wird und die seinen Tod für den zweiten Weihnachtsfeiertag ankündigen. O’Brien lehnt jeglichen Polizeischutz ab, aber der stellvertretende Polizeipräsident Londons überredet ihn, seinen Neffen, Privatdetektiv Nigel Strangeways, als Schutz zu akzeptieren. So geschieht es, und doch geschieht der Mord – während sich eine ebenso vornehme wie zwielichtige Gesellschaft in Dower House zur Christmas Party trifft. Nigel Strangeways muss nun liefern und sich durch diverse falsche Fährten und Alibis kämpfen, um den Fall zu lösen.
Sprachlicher Hochgenuss
Day-Lewis / Blake ist ein Meister des Worts, ihm gelingt es, mit wenigen Sätzen sowohl Stimmung und Atmosphäre zu erzeugen als auch gleichzeitig mit Ironie auf das Geschehen schauen. Hier eine Passage aus der Einleitung des Romans: "Ein Winternachmittag in London. In den Straßen deutet die Tatsache, dass Kinder und in braunes Packpapier gewickelte Päckchen überwiegen, darauf hin, dass Weihnachten vor der Tür steht. Auch in den Schaufenstern häuft sich jede unanständige Vielfalt von Schnickschnack, die wohl nur ein allumfassender guter Wille zu tolerieren vermag – Kalender zur Befriedigung jeder Art von schlechtem Geschmack oder persönlicher Animosität, verchromte Zigarrenabschneider, Schachteln mit Zahnstochern aus Elfenbein, namenlose Dinge aus Kunstleder, bebilderte und vielleicht auch nur ins Bild setzende Bücher, unechte Steine und synthetische Nahrungsmittel – kurz, eine Orgie des Überflüssigen. Menschen und Geld sind in fieberhafter Bewegung."
Das ist pointiert und genau beobachtet – und würde auch heute noch auf jede Hauptstraße im Weihnachtsgewusel passen. Es macht einfach Spaß, einen Krimi zu lesen, dessen Autor seine Leserschaft für belesen, neugierig und klug hält.
Ein Abbild der damaligen Gesellschaft
Dankenswerterweise macht Blake Superintendent Bleakley und Chief Inspector Blount nicht zu Volltrotteln, zeigt sie aber als Personen, die Konventionen und Regeln strikt befolgen und daher der Lösung des Falls keinen Schritt näherkommen. Ganz anders Nigel Strangeways, der grundsätzlich ‚out of the box‘ denkt und sich im Übrigen von der feinen Gesellschaft nicht ins Bockshorn jagen lässt. Wie sein Schöpfer ist er Oxford-Absolvent, Mitglied des Adels, hat einflussreiche Verwandte und lebt ein in jeder Hinsicht privilegiertes Leben.
Strangeways‘ Name ist ein Hinweis darauf, dass er zwar Teil der vornehmen Gesellschaft ist, aber problemlos ihre Regeln ignorieren oder brechen kann. Er denkt und geht ungewöhnliche Wege (= strange ways), nur das macht ihm die Aufklärung des Falls möglich. In den Namen von Superintendent Bleakley hingegen versteckt sich das Wörtchen ‚bleich‘ (= bleak), im Namen von Chief Inspector Blount das Wörtchen ‚stumpf‘ (= blount), Hinweise auf ihre eher untergeordneten Rollen.
So spiegelt sich diesem Krimi sehr schön die Gesellschaftsordnung im England der Zwischenkriegsjahre. Der Adel bleibt unter sich, in gewissen Maß haben zur vornehmen Gesellschaft auch Neureiche und Unternehmer Zutritt, die Polizei aber bleibt außen vor und man blickt mit deutlicher Herablassung auf sie. Noch mehr gilt das natürlich für die einfachen Leute, Angestellte etwa und die Leute aus dem Dorf.
Genretypisch – wir kennen das auch aus Agatha Christies Fällen mit Hercule Poirot – hat Nigel Strangeways am Ende eine Lösung mit allen Indizien parat, die er vor seinem Publikum ausbreitet und dann höchst wirkungsvoll umwirft, um mit Aplomb den tatsächlichen Mörder zu entlarven. Als Leserin kommt man nicht darauf, auch wenn – wie es sich gehört – vom Autor alle Hinweise irgendwo gegeben wurden. Ein wunderbarer Winterweihnachtskrimi, von Klett Cotta in einer sehr ansprechenden Ausstattung wieder neu aufgelegt.
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch