Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
© Suhrkamp
24.02.2023 / REGION -
Am 24. Februar jährt sich der Tag, an dem Russland in die Ukraine einmarschierte und sich damit selbst aus dem Reigen zivilisierter Nationen ausschloss. Seither tobt ein brutaler Vernichtungskrieg in der Ukraine. Die Ukraine kämpft um ihre Seele und ihre Unabhängigkeit. Serhij Zhadan hat in seinem preisgekrönten, atemlosen Buch die ersten vier Kriegsmonate dokumentiert. Das geht unter die Haut.
"Ihr werdet die Arschlöcher sein"
"Charkiwer, gebt acht. Wenn ihr könnt, helft denjenigen, die Hilfe brauchen. Nahrung, Medikamente. Transportmöglichkeiten. Wir halten stand. Sie können unsere Häuser zerstören, aber nicht unsere Verachtung für sie. Unseren Hass." (01. März)
"Ein Volk, das nicht in der Lage ist, vor der Bombardierung von Städten in einem fremden Land Halt zu machen, hat nicht das Recht, die Schuld einem angeblichen adolf aloisowytsch zuzuschieben. Das ist jetzt eure gemeinsame Last. Ihr seid jetzt gezeichnet. Fritze. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg ein ganz normaler Name, nicht wahr? Aber bis heute gezeichnet. So wird es nun auch mit euren Namen sein. Hinter Dostojewski könnt ihr euch nicht mehr verstecken. Die ‚russische große humanistische‘ Kultur sinkt auf den Grund wie die schwerfällige Titanic. Also sorry, wie das russische Kriegsschiff.
Hingeworfene Notizen aus der Kriegshölle
Sie merken an den Einträgen: Zhadan hat kein durchkomponiertes Buch geschrieben. Er hatte auch gar nicht die Absicht, eines zu schreiben. Das sind Einträge, die er auf Facebook veröffentlichte - und darum bat, sie so großflächig wie möglich zu teilen. Denn es ging nicht nur um seine Beobachtungen im Krieg, es ging besonders darum, zu helfen. Ein wesentlicher Gedanke dieses Buchs ist die Frage, wie man sich entscheidet in einem Krieg: tötest Du, bist Du gegen mich, willst Du mich zerstören – oder hilfst Du und stehst an meiner Seite?
Der Krieg verschiebt die Perspektive
Nein, ‚woke‘ ist das nicht. Und von mancher Seite wurde das heftig kritisiert. Aber – geht es im Krieg anders? In der FAZ-Rezension von 07.10.2022 heißt es: "Menschen sind die Invasoren für den ukrainischen Autor spätestens an dieser Stelle nicht mehr. Begreifen lässt sich das überhaupt nur aus der Binnenlogik des Kriegs. Solche Worte, gewählt von einem, der um das Gewicht von Worten weiß, machen klar: Nach dem Ende des Krieges wird es unabsehbar lange brauchen, bis heilen kann, was er zerstört hat." Es ist diese schmerzliche Erkenntnis, die einen neben der Unverhülltheit der Beobachtungen so mitten ins Herz trifft. Die brutale Sprache ist ein Spiegelbild der brutalen Wirklichkeit, in der die Russen bewusst Infrastruktur und Zivilisten angreifen, Kinder entführen, Menschen foltern. Die wahre Entmenschung findet auf dem Boden der Ukraine statt.
Krieg gegen die einfachen Menschen
Nur: Wer für das kämpft, woran sein Innerstes hängt, kann sich einem Despoten nicht ergeben. Die Ukrainer – Zhadan erzählt immer wieder tief berührende Geschichten – stehen ein für ihre Überzeugungen und für ihr Land. Ganz unabhängig davon, dass sie dies auch für uns in Westeuropa tun, kann man vor ihrem Mut und ihrer Leidenschaft nur allergrößten Respekt haben.
Dokumentieren statt verdichten
Im Krieg sieht Zhadan als Hauptaufgabe nicht das Schreiben, sondern das Helfen. Dieser Aspekt hat auch bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2022 eine Rolle gespielt. In der Begründung hieß es: "Zhadans Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten."
"Das Feuer, das uns härtet"
Das Schlusswort gehört Zhadan: "Die Geschichte ist ein geschickter, wenn auch manchmal ziemlich brutaler Töpfer. Manchmal gibt sie unseren Seelen eine Form, von deren Existenz wir keine Ahnung hatten. Es ist das Feuer, das härtet – aber diese unsichtbare Hand der Geschichte, der Ewigkeit – sie allein erschafft unerhörte Dinge. Wir glauben an unser Land. Allen eine gute Nacht. Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher." (11. März)
Weiterführende Links
Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:
https://www.suhrkamp.de/nachricht/serhij-zhadan-erhaelt-den-friedenspreis-des-deutschen-buchhandels-2022-b-3682
Die taz kritisiert die Preisvergabe:
https://taz.de/Friedenspreis-des-Deutschen-Buchhandels/!5886985/
Die ZEIT findet die Preisvergabe mutig:
https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-10/frankfurt-buchmesse-serhij-zhadan-friedenspreis?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
In der ARD-Mediathek finden Sie eine Sondersendung zur Preisverleihung:
https://www.ardmediathek.de/video/ard-sondersendung/friedenspreis-des-deutschen-buchhandels-serhij-zhadan/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zb25kZXJzZW5kdW5nLzk0NTdlY2Q1LWE4YzktNDQzYi1iZjEyLWNiMTUwNWU1OWRhZQ
Die FAZ hat das Buch gebannt gelesen:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/serhij-zhadan-und-sein-neues-buch-himmel-ueber-charkiw-18370954.html
Verleihung des Freiheitspreises der Schirrmacher-Stiftung an Zhadan:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/freiheitspreis-der-schirrmacher-stiftung-fuer-serhij-zhadan-18433830.html
"Ukraine and beyond" – Konzert Serhij Zhadans im Körber-Forum (ab Minute 06:20):
https://www.youtube.com/watch?v=JWSHKj5KFUw
(Jutta Hamberger)+++
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