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Eric Malpass, Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Gegen so trübseligen Novembernebel hilft die Lektüre von Eric Malpass
© Pixabay

24.11.2024 / FULDA - "Morgendämmerung und ein Himmel wie kalter Haferbrei. In den Winkeln des Daches noch ein paar Flecken nassen Schnees. In dem großen, weitläufigen Haus lag die Familie im sonntagmorgendlichen Winterschlaf, eingekuschelt gegen die Kälte und den kommenden Tag." So beginnt Eric Malpass‘ hinreißender Lausbubenroman um Gaylord Pentecost, der circa ein Jahr aus dessen Leben erzählt. Wohltuender als mit dieser Lektüre können Sie sich diese trüben Novembertage kaum aufhellen.



So etwas wie ein 68er Antidote

Bei manchen Büchern ist das gesamte Drumherum faszinierend, das gilt auf jeden Fall für "Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung". Malpass (1910-1996) war ein in Großbritannien mäßig bekannter Autor, der über Shakespeare publiziert hatte und liebend gern damit erfolgreich geworden wäre. Als er 1965 seinen Roman "Morning’s at Seven" veröffentlichte, wurden davon in Großbritannien gerade einmal 5.000 Exemplare verkauft. Der Erfolg passierte anderswo: Der Rowohlt Verlag entschied sich, den Roman zu veröffentlichen – das war der Beginn von Eric Malpass‘ Erfolgsgeschichte. Malpass schrieb zwei Fortsetzungsromane und erfreute sich an den endlich fließenden Tantiemen. Das Buch stand 1967 ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste und fand 360.000 Leser:innen, die Verfilmung zwei Jahre später sahen 3 Millionen Zuschauer:innen. Woran lag das?

Das Buch erschien mitten in den wilden 60er Jahren, in Deutschland tobten die Studentenproteste. Im Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg erschossen, ein Jahr später wurde das Attentat auf Rudi Dutschke verübt und die Notstandsgesetze erlassen. Es waren Zeiten der Verunsicherung, des Umbruchs und des tatsächlichen Neubeginns nach 1945. Von all dem ist in "Morgens um sieben" nichts zu spüren, das Buch ist im besten Sinne unpolitisch. Ich vermute, genau darin lag für die deutschen Leser:innen der Reiz. Bei den Pentecosts geht es zwar turbulent zu, aber es gibt keine verstörenden Nachrichten, Politik spielt überhaupt keine Rolle, es gibt weder langmähnige junge Männer noch emanzipierten Frauen oder wilde Musik, Rollenklischees werden nicht hinterfragt. Malpass präsentiert eine liebenswerte Familie, die sich bei allen Differenzen innig zugetan und in einem stabil konservativen Weltbild zuhause ist. Ja, es ist eine heile Welt, dass sie nicht ins miefige Biedermeier abrutscht, ist Malpass‘ feiner Ironie und genauer Beobachtung zu verdanken.

Neugieriger Blick in die Welt

Seinen Gaylord, der mit unbändiger Energie gesegnet ist, schlossen die Deutschen sofort ins Herz. Gaylord ist egal, welcher Wochentag ist, wie kalt es ist, was andere gerade tun – wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, tut oder sagt er es. An besagtem kalten Novembersonntag macht er sich zunächst mal auf eine Besuchstour durchs Haus: zu seinem Opa, seinen Tanten Rosie und Becky und zu seinen Eltern. So richtig begeistert ist niemand über das unverhoffte, frühe Wecken. Aber dagegen ist Gaylord ziemlich unempfindlich.

Da er ein freundlicher Junge ist, bietet er an, Tee zu kochen. "Voller Eifer begab sich Gaylord an sein karitatives Werk. Unten in der Küche drehte er erst einmal den Kaltwasserhahn weit auf. Dann presste er den Finger unter die Hahnöffnung. Köstlich spritzte das Wasser durch die Küche und über Gaylord. Er betrachtete seinen triefenden Schlafanzug und strich im Geiste Mummi von der Teeliste. Allmählich entwickelte er einen sechsten Sinn dafür, worüber Mummi sich aufregen würde."

Malpass braucht nicht einmal zwei Kapitel, und wir haben ein sehr präzises Bild der Familie Pentecost vor Augen – mit all ihren Eigenarten, Ticks und Problemen. Opa ist der brummige Patriarch der Familie, der sich gern hinter seiner ‚Observer‘-Lektüre versteckt. Seine Schwester Marigold ist schwerhörig, jedenfalls dann, wenn sie nichts hören will. Tochter Rosie ist Lehrerin und befürchtet, als alte Jungfer zu enden. Umso glücklicher ist sie, dass ihr Kollege Mr. Roberts ‚Bobs‘ zum Abendessen kommen will. Ihre Schwester Becky arbeitet als Privatsekretärin, ist sehr hübsch und hat immer einen Verehrer an ihrer Seite, der aktuelle heißt Peter. Gaylords Vater Jocelyn ist Opas Sohn – und Schriftsteller, was bei seiner Familie allerdings nur wenig Anerkennung erzeugt. Man kann annehmen, dass Malpass hier ein Selbstporträt untergebracht hat. Seine Frau May hält resolut alles am Laufen. Was – das kann man sich schon nach wenigen Seiten vorstellen – nicht gerade eine einfache Aufgabe ist.

Turbulenzen und Gefahren

Turbulent ist quasi der Normalzustand im Hause Pentecost. Zwischen den Schwestern gibt es Zwistigkeiten und Eifersüchteleien. Gaylords Eltern lieben sich zwar inniglich, streiten aber auch intensiv miteinander, so dass Jocelyn manche Nacht auf dem Dachboden verbringen muss. In diesem Erwachsenen-Kosmos ist so recht kein Platz für Gaylord, nur zu verständlich, dass er seine eigenen Aktivitäten verfolgt, auch wenn die meisten davon von seiner Familie nicht gerade goutiert werden. Er hat seine Augen und Ohren überall, kein Geheimnis ist vor ihm sicher, und mit der ungenierten Ehrlichkeit eines Kindes plaudert er auch alles aus.

Ein wichtiger Mensch für Gaylord ist Willie Foggerty, der ihn gleichermaßen fasziniert wie verstört. Mummi will nicht, dass er Umgang mit ihm hat, weil sie Willie für gefährlich hält und davon überzeugt ist, er habe nicht alle Tassen im Schrank. Gaylord aber mag Willie, der überaus sanftmütig ist – jedenfalls meistens. "Willie war achtzehn und sein Körper wesentlich stärker als sein armer, schwacher Verstand." Willie hat einen Schatz – einen Briefbeschwerer – den er Gaylord voller Stolz zeigt. Kurz darauf wird der gestohlen, deshalb ist Willie fest davon überzeugt, dass Gaylord der Dieb ist. Seine Brüder bedrohen Gaylord, der erst spät, fast zu spät, seinen Eltern die Briefbeschwerer-Geschichte mit all ihren Verwicklungen beichtet.

Mit dem Briefbeschwerer und Willie geht es noch weiter, und auch mit den Herren Peter, Mr. Robson und dessen Freund Stan Grebbie, der irgendwann auch im Hause Pentecost landet. Am Ende der Geschichte jedenfalls sind sowohl Becky als auch Rosie unter der Haube, Tante Marigold hat das Zeitliche gesegnet, Gaylord ist ein großer Bruder geworden und sein Vater versteht seinen Sohn wohl erstmals wirklich: "Er würde mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen, würde die Freuden und die Leiden des Lebens hinnehmen (…). Er würde ein standhafter, anständiger Mann werden, ein bisschen eigenwillig, und mit einem eigenen Kopf."

Alles ist gut mit dieser Welt

Mit Gaylord ist Eric Malpass eine ernsthafte und liebenswerte Jugendfigur gelungen. Joe Lederer äußerte sich zu dem Roman in der WAMS so: "Der Roman ist spannend, und der Humor, der Gaylords Abenteuer durchleuchtet, kommt aus dem Herzen, nicht aus der Retorte. Ein Buch, so englisch wie Ingwerbier, aber im universellen Reich der Kindheit beheimatet.

Ein Buch, das auch den ärgsten Griesgram zum Lachen bringen, graue Stunden erhellen und einen sonnigen Tag noch heiterer machen kann!" Wie wunderbar Malpass die Balance hält und wie gut die Britishness dem Buch tut, wird einem sofort klar, wenn man die Verfilmung (Kurt Hoffmann, 1968) anschaut – hier wird eine biedere, spießige und nur noch bedingt humorvolle Angelegenheit daraus. Das Buch ist hervorragend gealtert, der Film nicht.

In diesem November 2024 – mit Trump, Kriegen, Putin-Verherrlichern, rechten Populisten und Ampel-Exit – brauchen wir dringlichst Stimmungsaufheller, da bietet sich die Lektüre dieses unterhaltsamen und lebensklugen Romans geradezu an. Es tut gut zu erleben, wie Gaylord mit Witz und Phantasie die Welt um sich herum beobachtet und alles daransetzt, sie wieder in Ordnung zu bringen. Und es tut gut zu sehen, dass ihn nichts aus der Bahn wirft. Er bleibt ein glücklicher, kleiner Junge.

Für Literatur-Nerds noch der Hinweis: Der Titel des Romans bezieht sich auf das Gedicht "Pippas Song" aus Robert Brownings Versdrama "Pippa passes" (1841). Das bewusst einfach gehaltene Gedicht zeichnet eine Welt im paradiesischen Zustand, die gut ist, so wie sie ist. Die beiden letzten Zeilen sind zum geflügelten Wort geworden:

"The year's at the spring
And day's at the morn;
Morning's at seven;
The hillside's dew-pearled;

The lark's on the wing;
The snail's on the thorn;
God's in his heaven –
All's right with the world!”

(Jutta Hamberger)+++

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