Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
© Wikipedia / Matthias Laurenz Gräff CC BY-SA 4.0
03.11.2024 / FULDA -
1979 erschien "Das Treffen in Telgte" und machte Grass auf einen Schlag zu einem Namen in der literarischen Welt. Bis heute ist das mein Lieblingsbuch von Grass. Es schildert mit Humor und Ironie ein fiktives Treffen deutscher Dichter im Jahr 1647, der Dreißigjährige Krieg wird ein Jahr später endlich zu Ende gehen. Die Jahreszahl macht den Kontext klar: Es ist gleichzeitig Hommage und Persiflage auf die Treffen der "Gruppe 47". Gewidmet ist der Text Hans Werner Richter, der die Gruppe ‚erfand‘ und leitete.
Schlüsselroman
Sonderlich erfolgreich war das Buch nicht, auch wenn es von allen Kritikern in den höchsten Tönen gepriesen wurde. Ein gutes Beispiel dafür, dass Erfolg nichts über die Qualitäten eines Buchs aussagt! Das vorherrschende Thema des Treffens ist der Krieg, seine Verwirrungen, die Fragen, wer mit wem und warum Krieg führt, wer gerade einen Friedensvertrag geschlossen hat und wann dieser wieder gebrochen werden wird und wie die einfachen Leute mit den Kriegsfolgen umgehen. Es geht um Macht und Machtallianzen – und immer wieder auch um Religion, die ja der Auslöser des 30-jährigen Kriegs war. Auch der Ort Telgte ist nicht von ungefähr gewählt, liegt er doch in der Nähe Münsters, wo ein Jahr später der Westfälische Frieden geschlossen werden sollte.
Die zweite Lust-Ebene ist natürlich der Schlüsselroman, der "Das Treffen in Telgte" auch ist. Wer ist wer? Manche Dichter sind leicht zu entschlüsseln, bei anderen gibt es mehrere Möglichkeiten. Simon Dach ist Hans Werner Richter, der Gründer der "Gruppe 47". Mit Christoffel Gelnhausen, der natürlich Grimmelshausen sein soll, hat Grass ein Selbstporträt geschaffen. August Buchner ist vermutlich Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Andreas Gryphius ist Heinrich Böll, in Sigmund von Birken mischen sich Züge von Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser. Georg Greflinger dürfte Rudolf Augstein sein. Und die Libuschka ist eine Figur Grimmelshausens aus dessen "Ausführlicher und wundersamer Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche" – sie wird später noch in Bertolt Brechts "Mutter Courage" eine Rolle spielen.
Warum nun treffen sich die Dichter eigentlich? Eingeladen hat der Königsberger Dichter Simon Dach – das ist der Autor des "Ännchen von Tharau" – man trifft sich im Gasthaus Brückenhof, dessen Wirtin die Libuschka ist. Das Treffen hat einen hohen Zweck: "Keiner wollte fernbleiben. Niemand wollte für sich bleiben. (…) Das Treffen sollte stattfinden, um dem zuletzt verbliebenen Band, der deutschen Hauptsprache, neuen Wert zu geben (...), um – wenn auch vom Rande her nur – ein politisches Wörtchen mitzureden. (…) Schließlich war man wer. Wo alles wüst lag, glänzten einzig die Worte. Und wo sich die Fürsten erniedrigt hatten, fiel den Dichtern Ansehen zu. Ihnen, nicht den Mächtigen, war Unsterblichkeit sicher." Die Dichter wollen einen Aufruf an die Fürsten schreiben, das soll ihr Beitrag zur Beendigung des Kriegs sein: "Es galt, sich vernehmlich zu machen. Wenn keine Regimenter, so konnten sie doch Wörter aufbieten." Simon Dachs abschließende Rede gipfelt in dem "Satz vom bleibenden Vers": "Und wenn man sie steinigen, mit Hass verschütten wollte, würde noch aus dem Geröll die Hand mit der Feder ragen." Die Sprache – mehr noch als die Literatur – sei Heimat all dessen, "was deutsch zu nennen sich lohne".
Es kommen unter anderem Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Andreas Gryphius, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Friedrich von Logau, Heinrich Schütz, Philipp von Zesen, Angelus Silesius, Georg Rodolf Weckherlin, Paul Gerhardt und der Komponist Heinrich Schütz. Über zwanzig sind es am Ende, einige bringen ihre Verleger mit. Sie sind die Repräsentanten ihrer Epoche – des 17. Jahrhunderts und seiner Barockdichtung. Man liest sich aus seinen Manuskripten vor. Jeder Dichter sitzt dafür auf einem Schemel, neben sich steht eine Distel – die für die Unzerstörbarkeit Deutschlands steht. Man erörtert die Texte, die deutsche Sprache nach dem Krieg, die Moral in finsteren Zeiten – es geht bissig und unerbittlich zu, man schenkt sich nichts. Dazwischen gibt’s Freß- und Saufgelage, und die ein oder andere Magd findet den Weg in ein Dichterbett. Das Schöne an dem Büchlein ist, dass viele der Werke, aus denen die Dichter sich vorlesen, im Anhang mit abgedruckt sind – man kann also tief eintauchen in diese Zeit und ihre Literatur auf sich wirken lassen.
Fortsetzung der Fruchtbringenden Gesellschaft
Das Treffen in Telgte steht am Ende des 30-jährigen Kriegs, die Dichter haben am eigenen Leib erfahren, was Krieg bedeutet und wie zerstörerisch in jeder Hinsicht er ist. Sie greifen den zentralen Gedanken der "Fruchtbringenden Gesellschaft" auf – Sprache und Literatur schaffen nationale Identität. Aber nur dann, wenn sie sich ihre Autonomie bewahrt und nicht im Dienst von jemandem steht. Jegliche Vereinnahmung, egal ob durch Politik, Religion oder Ideologie, wird abgelehnt. Hinter der Maske der barocken Dichter wendet Grass sich von einer Position ab, die er selbst lange vertreten hat – dass Literatur nämlich dienstbar sein müsse. Nein, das Literarische und Poetische muss seinen eigenen Stellenwert haben.
Doch dann geht das Haus, in dem die Dichter sich treffen, in Flammen auf, auch der Friedensaufruf verbrennt. "So blieb ungesagt, was doch nicht gehört worden wäre." Am Ende stehen physische Ohnmacht und eine erste Vorstellung davon, was die eigentliche Berufung der Dichter sein könnte. Man geht auseinander, ein weiteres Treffen wird nicht vereinbart.
Hat die Tagung nun ein Ergebnis gebracht? War es den Aufwand wert? So, wie sich jeder der Dichter diese Frage selbst beantworten muss, gilt das auch für die Leser. Grass selbst hätte es wohl so gesehen: Ja, es gibt ein Ergebnis: Literatur ist überlebensnotwendig. Sie weckt im Menschen die besseren Instinkte, sie ist ein Antidote gegen Banalität, sie ist ein Sprachermächtiger. In Zeiten, in denen Ministerpräsidenten sich anmaßen, Sprache zu regulieren und Sprachformen zu verbieten – Grass hätte vermutlich einen Lachanfall bekommen –, eine besonders hörenswerte Botschaft.
Weiterführende Links
Sommers Weltliteratur to go – das Treffen in Telgte to go: https://www.youtube.com/watch?v=8zUmMQ4rA1M
https://www.spiegel.de/kultur/wundervoll-leicht-a-6c97bbf9-0002-0001-0000-000048495990
(Jutta Hamberger)+++
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