Was wir lesen, was wir schauen (71)

Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer

Bell Rock Lighthouse – Gemälde von Joseph Mallord William Turner
© Wikipedia/Google Art Project

09.07.2023 / REGION - Wie geht es Ihnen? Vielleicht ähnlich durchgeschüttelt wie mir, die letzten Wochen waren anstrengend. Wer dachte, Pandemiejahre und Ukrainekrieg hätten einen gestählt für alles, was kommt, wurde eines Besseren belehrt. Zeit also für ein Kraft- und Nachdenkbuch.



Wir alle sind im Sturm unterwegs

"Niemand hätte jemals den Ozean überquert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, das Schiff bei Sturm zu verlassen."  Dieser Satz stammt von Charles F. Kettering, der Lehrer, Wissenschaftler, Forscher und Erfinder war. Er beschreibt gut die Haltung, um die es in "Das muss das Boot abkönnen" geht. Es sind Geschichten von und über Kapitäne – echte, fiktive, heute lebende und historische Kapitäne. Sagen Sie jetzt nicht, Sie kennen keine, denn bestimmt fallen Ihnen doch einige ein: Captain Ahab (‚Moby Dick‘), Horatio Nelson (Schlacht von Trafalgar), Edward John Smith (Untergang der Titanic) oder Ernest Shackleton (Nordpol-Exkursion). Auch den Namen Francesco Schettino (Costa Concordia) erinnert wohl jeder, wenn das Stichwort Kreuzfahrt fällt.

In diesem Buch lernen Sie viele Kapitäne kennen. Stefan Kruecken hat mehr als 150 besucht und war mit ihnen auf See unterwegs. Sie haben ihm ihre Geschichten erzählt, in denen es um Mut, Krise, Angst, Verantwortung und Haltung geht – im Großen wie im Kleinen. Im Hamburg Journal sagte Stefan Kruecken: ""Wir sind alle in einem großen Sturm unterwegs. Erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg, die Auswirkungen – ich glaube, dass wir von alten Kapitänen sehr viel abschauen können. Das betrifft die Vorbereitung auf einen Sturm, das Verhalten im Sturm, das Verhalten gegenüber der Crew, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, pragmatisch zu sein, die Ruhe zu bewahren und sich selbst zurückzunehmen."

Harte Arbeit unter Deck

In den letzten Wochen ist es nicht eben geruhsamer geworden. Täglich prasseln schlechte Nachrichten auf uns ein. Dagegen helfen auch die gutgemeinten Ansätze von "Constructive News" nicht, wie sie z.B. der Spiegel in seinem Newsletter "Alles Gute vom Spiegel" versucht. Mir hilft es, mich auszuklinken, gedanklich zur Ruhe zu kommen, mich zu sortieren. Wie man sich aus dem Sumpf rauswindet, wissen wir nur zu gut, in diesem Buch bekommen wir es schwarz auf weiß: Man muss schon selbst aktiv werden, wenn man etwas verändern und verbessern will. Klingt nach einer Binse, ist es aber nicht, denn wir alle sind anfällig dafür, zu jammern, jemandem die Schuld zu geben und vom Staat Hilfe einzufordern. Kruecken dazu: "Jetzt ist nicht die Zeit fürs Sonnendeck, sondern für harte Arbeit unter Deck."

Das ist ein Satz, an den ich oft denke, wenn ich Krakeeler und selbsternannte Querdenker höre und lese. Es ist so leicht, Menschen pauschal zu verurteilen, mit diesem infamen "Die… Politiker, Grünen, Kirche, Parteien" usw. Es ist weitaus anspruchsvoller, genau hinzuschauen, differenziert zu argumentieren und v.a. selbst aktiv zu werden. Die Frage an all die Schreihälse lautet immer: Was genau tust Du, wo genau engagierst Du Dich, wo und wie machst Du die Welt zu einem besseren Ort?  

Zeit für das Dienstgesicht

Es ist Oktober 1991, der Frachter "Svea Pacific" ist mittendrin in diesem größten Sturm auf dem Nordatlantik seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Besatzung, alle von den Philippinen, hat Angst, keiner glaubt, die Nacht zu überleben. Auch Kapitän Emil Feith zweifelt, aber das darf er sich nicht anmerken lassen. Johnny Cash beruhigt die Nerven, aber der Sturm nimmt zu, irgendwo läuft Wasser ins Schiff und dann fällt die Ruderanlage aus. Das Umschalten auf die Ersatzmaschine dauert 10 Minuten. In dieser Zeit ist der Frachter den Wellen ausgeliefert. Der Maschinist kriegt es hin, der Kapitän nimmt die Nachricht ohne große Gefühlsregung auf, gönnt sich aber einen Johnny Walker Black Label, den ersten in all den Jahrzehnten, die er auf der Brücke steht.

Ein Kapitän dürfe keinen an seinen Emotionen teilhaben lassen, sagt Feith. "Klares Denken, klares Handeln, klare Ansagen. Zeit für das Dienstgesicht." Das sei das Gegenteil unserer gefühligen, postmodernen Zeiten, findet Kruecken, etwas ungeheuer Altmodisches. "Was die Kapitäne angeht, ist ihre Sicht auf die Dinge das genaue Gegenteil der lauten Aufgeregtheit unserer Zeit. Tugenden wie Bescheidenheit, Zurückhaltung (…), bestimmt hat das auch etwas mit der See zu tun. Wer lange Zeit auf dem Meer unterwegs ist, der weiß die eigene Rolle einzuordnen."

Über die Weltoffenheit alter, weißer Männer

In einem Interview in der NDR-Sendung DAS! wurde Kruecken gefragt, wie viele Frauen eigentlich inzwischen Kapitänin seien. Zu wenige, das ist klar, aber dass tatsächlich auf 1.000 Männer nur 1,4 Frauen kommen, hat mich dann doch überrascht. Der Grund sind die Strukturen der Seefahrt. Glücklicherweise ist aber auch die Seefahrt inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen, das jedenfalls versichert Frau Kapitän Nicole Langosch dem Autor. In Deutschland war sie die erste Frau auf der Brücke eines Kreuzfahrtschiffs. Eine Pionierin. Und: "An deutschen Seefahrtschulen werden aktuell so viele junge Frauen wie niemals zuvor ausgebildet." Mit Gaby Bornheim hat der Deutsche Reederverband überdies gerade eine Präsidentin, die viel anschieben will in Richtung mehr Frauen und Kulturwechsel auf der Brücke.

Kruecken versichert, auch wenn fast alle Kapitäne weiße, nicht mehr ganz junge Männer sind, träfe auf sie die mit dem Diktum "alter, weißer Mann" bezeichnete Haltung nicht zu. Sie seien weltoffen und wüssten alle: "Sobald Du an Bord eines Schiffes gehst, ist deine Nationalität egal. Deine Hautfarbe, deine Religion, alles ist egal. Dann bist du nur noch Seemann."

Wir alle sind "meerblind"

Kruecken öffnet uns die Augen für die Bedeutung des Meers und der Schifffahrt für unser tägliches Leben. Sofern wir nicht Küstenbewohner sind, sind uns die lebenswichtigen maritimen Themen nicht bewusst. Dabei werden 90 Prozent des internationalen Güterverkehrs über die See transportiert. Sogar in einer Seefahrernation wie Großbritannien wissen das nur 0,1 Prozent der Bevölkerung. Der Begriff für dieses Phänomen ist "Sea Blindness".

Die Öffentlichkeit, leider aber auch Entscheiderinnen und Presse haben zu wenig Verständnis für die Bedeutung der Seefahrt und die Sicherheit der Meere. Das ist keine Petitesse, denn es führt dazu, dass die Seefahrt zu wenig Geld und Unterstützung bekommt und beruflich zu wenig attraktiv für Nachwuchs ist. Während der Corona-Pandemie wurde es erstmals überdeutlich: Die Seefahrt hält die Ökonomie am Laufen – oder eben nicht. Auch der Stau im Suez-Kanal 2021 war ein solcher Augenöffner. Kruecken weist darauf hin, dass der Unfall der "Ever Given" für ca. 15 Millionen Verlust pro Tag gesorgt habe – das summierte sich auf Milliarden für die Weltwirtschaft.

Anti-Kapitäne und moderne Sklaverei

Nicht alle Kapitäne machen einen guten Job, wen wundert’s – das ist überall so. Ein absoluter Tiefpunkt wurde sicher mit dem italienischen Kapitän Francesco Schettino erreicht, dessen Arroganz, Feigheit, Prahlsucht und Trinkerei zur Katastrophe des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia führten. Schettino sei ein Beispiel für einen Anti-Kapitän, so Kruecken.

Wer hofft oder denkt, dass Sklaverei auf See im 21. Jahrhundert kein Thema mehr sein könne, der irrt heftig. "Ausbeutung in der Seefahrt ist so alt wie die Branche selbst. Schon immer gab es Reedereien, denen das Wohlergehen ihrer Seeleute so wichtig war wie ein Möwenschiss in Madagaskar."  Das zu ändern, wäre auch eine gute Maßnahme gegen Sea Blindness.

‚Rüm hart, klaar Kiming‘ (großes Herz, klarer Horizont) ist das Lebensmotto der Seefahrer aus Friesland. Und meint genau dasselbe wie ‚Das muss das Boot abkönnen‘. Der Satz fällt in Petersens Film "Das Boot", als die U-96 auf Tiefe geht und die Besatzung sich fragt, ob sie dem Wasserdruck auch standhalten könne. Wenn man in der Situation sagen kann, stell dich mal nicht so an, sollte es uns doch auch gelingen, oder?

Weiterführende Links

Gespräch mit Autor Stefan Kruecken: https://www.radioeins.de/programm/sendungen/mofr1013/buch/-das-muss-das-boot-abkoennen--von-stefan-kruecken-.html

Besprechung des Buchs: https://www.ardaudiothek.de/episode/die-literaturagenten/das-muss-das-boot-abkoennen-durch-sturm-und-krise/radioeins/12251461/

Stefan Kruecken zu Besuch im Hamburg Journal: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Das-muss-das-Boot-abkoennen-Das-neue-Werk-von-Stefan-Kruecken,hamj132392.html

Stefan Kruecken zu Besuch in der NDR-Sendung DAS: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/das/DAS-mit-Verleger-Journalist-und-Bestsellerautor-Stefan-Kruecken,dasx33024.html

Spiegel-Geschichte über eine der ältesten Radiosendungen der Welt (Gruß an Bord): https://www.spiegel.de/geschichte/radiosendung-gruss-an-bord-fuer-seeleute-gemeinsam-einsam-a-a1cecdba-2edc-4dc1-859d-98a1a21045dd

Artikel zum Thema Sea Blindness des Portals Safety4Sea: https://safety4sea.com/cm-shipping-still-suffering-from-sea-blindness-report-shows/

Spiegel-Kolumne über die Einflüsterer der FDP: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimaschutz-die-heimlichen-herrscher-der-fpd-kolumne-a-d0defee9-85ea-4cdb-adac-93e49e3539de

Website Ankerherz: www.ankerherz.de
(Jutta Hamberger)+++

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