Was wir lesen, was wir schauen (83)

Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre

Am Strand von Usedom
© Jutta Hamberger

31.12.2023 / FULDA - Heute ist der letzte Tag des alten Jahres – es wird also Zeit, ausreichend gute Vorsätze für 2024 zu fassen. Außer natürlich, Sie gehören zu den Menschen, die noch genügend gute Vorsätze aus 2023 übrighaben, dann könnten Sie einen oder zwei davon recyclen. Mein guter Vorsatz ist einer, den ich einlösen will und kann: wirklich aufregende, spannende, horizonterweiternde Bücher lesen. Falls Ihnen dieser Vorsatz auch gefällt, hätte ich hier ein paar Neujahrsvorschläge für Sie!


 
Charles M. Schulz, Peanuts für alle Lebenslagen

In sehr komplexen, verunsichernden und manchmal auch beängstigenden Zeiten hilft mir oft die Hinwendung zu den Helden meiner Kindheit. Snoopy, Asterix und Obelix, Harka, der Sohn der großen Bärin, Emil in Lönneberga, die Herdmanns oder Calvin und Hobbes dämpfen das Grummeln im Bauch, ziehen die Mundwinkel nach oben, helfen, mich einmal richtig durchzuschütteln.

Snoopy und ich – das ist eine lange, glückliche Beziehung, die 1977 in London begann. Wie schön, dass der Reclam Verlag die "Peanuts für alle Lebenslagen" herausgebracht hat. Ein sehr notwendiges Buch, das sich für Peanuts-Kenner genauso wie für Einsteiger eignet, bietet es doch wirklich Weises der Kultfiguren. Und lachen kann man auch oft genug dabei.

Ich mag vor allem die Comic-Strips über Literatur – vor Snoopy & Co. hätten die Herren Karasek, Reich-Ranicki oder die Feuilleton-Redaktionen von FAZ, SZ und ZEIT mit ihrer Besserwisserei und Beckmesserei keine Gnade gefunden. Es gibt nicht große und kleine Fragen, es gibt nur relevante. Und das Leben bleibt, egal wie man es dreht und wendet, widersprüchlich. Fragen Sie Snoopy.


Wladimir Kaminer, Tolstois Bart und Tschechows Schuhe

Fanden Sie auch immer, dass russische Literatur zwar großartig, durch die vielen Namen aber auch ganz schön anstrengend zu lesen ist? Dann lege ich Ihnen Kaminers Streifzug durch die russische Literatur ans Herz. Für ihn hat es viel mit Heimweh und Heimat zu tun, für uns mit Leseneugier und Lachen. Kaminer dürfte der Einzige sein, der die Bedeutung russischer Autoren an der Länge ihrer Bärte festmacht.

Das Buch ist komisch und erhellend zugleich, zumal sich in Kaminers sieben Schriftsteller-Porträts Welt – und Literaturgeschichte, Liebe und Tragik und mehr oder weniger verrückte Ideen über das Leben vermengen. Ein ungemein kurzweiliges und oft skurriles Buch, natürlich auch als Hörbuch – gelesen von Kaminer selbst – sehr empfehlenswert.




Clemency Burton-Hill, Ein Jahr voller Wunder


Dieses Buch ist ein immerwährender Kalender und könnte Ihr Lebensbegleiter für 2024 werden. Für jeden Tag des Jahres gibt es eine musikalische Empfehlung. Und zwar klassische Musik. Ich sehe förmlich, wie Sie zusammenzucken und denken, ach Gott nee, das dann lieber doch nicht. Keine Angst. Hier geht es nicht zu wie im Konzertsaal, dessen geschriebene und ungeschriebene Gesetze Besucher in peinliche Situationen bringen können. Hier können und sollen Sie nach Lust und Laune entdecken, gut oder schlecht finden, ausprobieren oder ignorieren.

Burton-Hill ist sehr berufen, dies zu tun, sie ist eine herausragende Geigerin, Mitbegründerin des Aurora Orchesters, Moderatorin von Klassik-Sendungen auf BBC und Kulturjournalistin. Ihr geht es nicht um "die muss man kennen"- oder "das solltest Du hören"-Stücke, sondern ums Eintauchen in die Musik, ums Entdecken von und um die Wiederbegegnung mit Komponisten. Mit einer Playlist, die man über Apple Music herunterladen kann, kann man vieles auch gleich anhören – manchmal ist für den Hörgenuss aber auch ein bisschen Recherche-Arbeit nötig. Und wenn Sie auf den Geschmack gekommen sind, gerade erst ist "Ein neues Jahr voller Wunder" erschienen.



Wilfried von Bredow, Lola rast und andere schreckliche Geschichten


Wenn ein Verlag ein Buch so anpreist: "Ein Angst-Lust-Bilderbuch für mutige Eltern – oder umgekehrt", ist man quasi verpflichtet, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Schwarzer Humor für Kinder? Her damit. Als das Buch 2009 erschien, kaufte ich es sofort und las es dann unzählige Male vor. Ich amüsierte mich immer wieder über den skurrilen, schwarzen und oft bissigen Humor der Geschichten, die gerade im Vorlesen ihre Wirkung entfalten. Wenn Sie so wollen, hat Bredow eine moderne Struwwelpeter-Geschichte geschrieben – nur ohne Heinrich Hoffmanns Pädagogisieren und Moralisieren.

Noch etwas spricht für dieses Buch – die Warnung mancher ‚Lehrkörper‘ davor. Sie wissen ja, wenn ein Buch mit Warnschildern versehen oder gleich indexiert wird, rasen Sie besser sofort los und kaufen es sich. Hier eine Kostprobe aus der Geschichte ‚Maltes Zimmer‘:


Stöcke, Steine, Stinkesocken,
Kekse, Cowboys, Knetebrocken,
zwölf Kaninchen oder mehr,
und der Stall gleich hinterher.
Ritterburg und Räuberwaffe
und der alte Schlenkeraffe,
Riesenberge von Klamotten,
angeknabberte Karotten,
zwischen diesem ganzen Trödel
hundertfünf Kaninchenknödel,
Autos klein und Autos groß –
auf der Straße ist was los!
Kinder kommen angelaufen,
wühlen in dem Riesenhaufen.
Die Kaninchen hoppeln weg,
hinterlassen Stall und Dreck.
Maltes Zimmer ist ganz leer.
Jetzt hat er gar kein Spielzeug mehr.


Ulrich Chaussy, Arthur Eichengrün – der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst


Dieses Sachbuch führt uns an den Obersalzberg – und ja, Sie ahnen es schon, damit mitten hinein in die dunkelsten Jahre deutscher Geschichte. Am Obersalzberg nämlich residierte nicht nur Hitler, hier wohnten auch ganz normale Leute (jedenfalls, bis Martin Bormann sie vertrieb). Zu ihnen zählte der Chemiker Arthur Eichengrün, der ein Sommerhaus in unmittelbarer Nähe des späteren Berghofs hatte. Chaussy erzählt die Geschichte eines "verschwundenen Nachbarn aus einem getilgten Dorf". Denn Erinnerungen an Arthur Eichengrün gibt es kaum noch, dabei war der einer der bedeutendsten Chemiker und Erfinder der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Wir verdanken Eichengrün unter anderem das Aspirin, den unbrennbaren Kinofilm und die biegsamen Schallplatten.

All das ist mit der Machtergreifung Hitlers 1933 auf einen Schlag vorbei. Eichengrün ist jetzt nur noch eins – Jude. Er verliert sein Unternehmen und seine Patente. Er wird gleich mehrfach und nach Nazi-Gesetzen legal ausgeraubt, mit der Judenvermögensabgabe, der Auswandererabgabe und der Reichsfluchtsteuer. Die Nationalsozialisten verhindern auch seine bis ins Detail geplante Auswanderung nach England. Eichengrüns Verdienste werden aus der Geschichte herausgeschrieben, er wird im Mai 1944 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert – das er überlebt. 1949 stirbt er in Bad Wiessee an den Folgen der Inhaftierung.

Jedes Jahr besuchen ca. 300.000 Touristen den Obersalzberg – suchen nach Überresten von Hitlers "Berghof", nehmen teil an einer Führung durch die riesigen Bunkeranlagen und fahren hinauf zum Kehlsteinhaus. Manche von ihnen kommen sicher aus historischem Interesse, viele aus Sensationsgier. Dass auch hier Juden vertrieben und entrechtet wurden, haben die wenigsten auf dem Schirm.

Ein toll recherchiertes und absolut notwendiges Buch, das uns auch damit konfrontiert, wie deutsche Unternehmen nach 1945 oft nahtlos und relativ ungestört ihre antisemitische Agenda weiterverfolgen konnten. Das Pharma-Unternehmen Bayer jedenfalls hält es bis heute für angemessen, bei einer arisierten Version zur Erfindung des Medikaments Aspirin zu bleiben – obwohl spätestens seit 1999 Eichengrüns Leistung nachgewiesen ist.


Christine Brückner, Jauche und Levkojen


Wenn wir schon bei vergangenen Zeiten sind, lohnt sich auch ein Blick auf unwiederbringlich Untergegangenes. Dieser Roman spielt im Pommern zwischen den beiden Weltkriegen. Seine Hauptfigur ist Maximiliane von Quint, die 1918 auf Gut Poenichen geboren wird. Der Vater stirbt vor ihrer Taufe, die Mutter verlässt das Gut, heiratet erneut und wandert mit ihrem jüdischen Ehemann nach Amerika aus. Maximalliane wird vom Großvater erzogen. Sehr jung heiratet sie Viktor, die Ehe ist nicht sonderlich glücklich, aber kinderreich, und der Nationalsozialist hält schützend die Hand über Gut Poenichen. 1945 aber ist alles vorbei, Maximiliane verlässt als Kriegerwitwe mit ihren vier Kindern das Gut und reiht sich ein in den großen Flüchtlingstreck gen Westen.

Der Roman erschien 1975 und traf den Nerv einer Generation von Frauen, die sich in dieser Erzählung wiederfand und sich in ihrer Lebensleistung wertgeschätzt fühlte. Krieg, Vertreibung und Wiederaufbau – das sind die drei Stichworte, die das Leben dieser Frauen bestimmten. Brückner erzählt empathisch und mit gemächlichem Erzählfluss, sie lässt den Figuren und ihren Schicksalsläufen Zeit zur Entwicklung. Sie schuf Identifikationsfiguren für Frauen in einer Zeit, als das eine Seltenheit war. "Das Leben ist nicht nur ein Levkojengarten" – dieses Zitat Theodor Fontanes stellt Brückner dem Roman vorweg und setzt damit den Ton. Hier geht es nicht um harmoniesüchtigen Eskapismus oder revanchistische Heimatliebe, sondern darum, wie man mit den Brüchen in der eigenen Biographie umgeht – und dabei Haltung bewahrt. (Jutta Hamberger)+++

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