Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
© Jutta Hamberger
26.06.2022 / REGION -
Ich bin ein großer Fontane-Fan. Das stieß schon während meines Germanistikstudiums auf milde Verwunderung, denn Fontane und der Roman des Deutschen Realismus galten als oll, staubig und nicht gerade unterhaltsam. Ich sah das ganz anders. Und als es wieder möglich war, führte mich eine meiner ersten Reisen in die Mark Brandenburg, in die Grafschaft Ruppin und an den Stechlin-See.
Den Umbruch in den Griff bekommen
Mir scheint, in einer Zeit, in der man Briefe kaum noch schreibt und Konversation sich oft bestenfalls auf Partytalk beschränkt, kann und darf man die Kunst Fontanes, Gespräche auf so verschiedenen Bedeutungsebenen zu führen, zutiefst bewundern. Es ist kein Zufall, dass Fontanes Werk gerade in der Zeit des Dritten Reichs von vielen wieder entdeckt wurde, Thomas Mann etwa befand, es sei so etwas wie ein "Gegengift" gegen den Nationalsozialismus. In Deutschland erleben wir zur Zeit, dass Parteien am linken wie rechten Rand die Meinung zu monopolisieren versuchen, sog. Querdenker sich für Opfer der Demokratie halten (kein Witz, leider), dass bewusst gesteuerte Fake News Menschen verwirren und vernebeln. Da kann die Haltung des alten Stechlin und seines Autors Fontane, die Dinge immer von zwei Seiten zu sehen und dabei dennoch im Gespräch zu bleiben, besonders lehrreich sein.
Tiefe Humanität
Fontane bildet Gegensatzpaare – hier den liberalen Dubslav von Stechlin, dort die Domina, seine erzkonservative Halbschwester Adelheid. Hier die ruhige, gelassene Armgard, dort ihre kapriziöse Schwester Melusine. Der etwas moralinsaure Ministerialrat von Rex und der flatterhafte Hauptmann von Czako. Die Welt ohne Frauen, in der Dubslav von Stechlin lebt – und die männerlose Welt Adelheids. Das bedeutet, dass alles, wirklich alles, in den Gesprächen in Meinungen und Positionen verpackt wird – und es zu jeder Haltung immer mindestens eine Gegenposition gibt. "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig", davon ist der alte Stechlin überzeugt. Man möchte seine tief humane Haltung gern all jenen Krakeelern entgegenhalten, die sich für verfolgt und entrechtet halten, weil man ihre Meinung nicht teilt.
Der Stechlinsee
Seit Erscheinen des Romans pilgern Fontane-Fans an den See. Der See ist ungewöhnlich tief, an den tiefsten Stellen bis zu 70 m. 2003 wurde eine neue Fischart im See entdeckt und zu Ehren Fontanes Fontane-Maräne genannt.
Im Roman heißt es: "Vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen." Man kann das auch als Botschaft für das Jahr 2022 verstehen.
Weiterführende Links
https://www.kulinaristik.net/wp-content/uploads/2015/05/Gisbertz.pdf
https://www.aerzteblatt.de/archiv/173065/Literarische-Orte-Der-doppelte-Stechlin
https://www.koellerer.net/2018/12/09/theodor-fontane-der-stechlin/
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