Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
© Jutta Hamberger
26.06.2022 / REGION -
Ich bin ein großer Fontane-Fan. Das stieß schon während meines Germanistikstudiums auf milde Verwunderung, denn Fontane und der Roman des Deutschen Realismus galten als oll, staubig und nicht gerade unterhaltsam. Ich sah das ganz anders. Und als es wieder möglich war, führte mich eine meiner ersten Reisen in die Mark Brandenburg, in die Grafschaft Ruppin und an den Stechlin-See.
Den Umbruch in den Griff bekommen
Ich kann nicht einmal genau sagen, was mich so zu Fontane hinzieht. Ist es der Rhythmus der Sprache? Ist es das bedachtsame Tempo, mit dem er die Geschichten sich entfalten lässt? Sind es die Hauptfiguren? Oder die Tatsache, dass es fast in allen Romanen kaum Handlung, aber sehr viel Inhalt gibt?
Kommt Ihnen das entfernt bekannt vor? Im Grunde könnte man all das genauso für das Jahr 2022 hinschreiben, für das der Bundeskanzler eine Zeitenwende ausgerufen hat. Und wie die Figuren in Fontanes Roman debattieren und diskutieren wir, wie wir mit all dem Neuen umgehen sollen – und was es für jeden einzelnen von uns bedeutet. Von Fontane lernen könnten wir dabei drei Dinge: miteinander (statt übereinander) reden, sich zuhören, und mit größerer Gelassenheit agieren. Im Roman heißt es: "Ich respektiere das Gegebene, daneben aber freilich auch das Werdende (…). Alles Alte, soweit es einen Anspruch darauf hat, sollten wir lieben, aber für das Neue sollten wir recht eigentlich leben." Das ist das Leitmotiv des Romans.
Über seinen Roman schrieb Fontane selbst: "Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts." Mir ist erst Jahre später aufgegangen, dass er damit beschreibt, was ich in meiner Beratungsarbeit auch immer sage: Es geht nicht um ‚Content‘, sondern um ‚Konzept‘. Für den Inhalt allein steht keiner vom Sofa auf, da muss schon eine überzeugende Idee dazukommen. Fontanes Konversationsroman war damals geradezu neumodisch, so etwas hatte man damals noch nicht gelesen.
Mir scheint, in einer Zeit, in der man Briefe kaum noch schreibt und Konversation sich oft bestenfalls auf Partytalk beschränkt, kann und darf man die Kunst Fontanes, Gespräche auf so verschiedenen Bedeutungsebenen zu führen, zutiefst bewundern. Es ist kein Zufall, dass Fontanes Werk gerade in der Zeit des Dritten Reichs von vielen wieder entdeckt wurde, Thomas Mann etwa befand, es sei so etwas wie ein "Gegengift" gegen den Nationalsozialismus. In Deutschland erleben wir zur Zeit, dass Parteien am linken wie rechten Rand die Meinung zu monopolisieren versuchen, sog. Querdenker sich für Opfer der Demokratie halten (kein Witz, leider), dass bewusst gesteuerte Fake News Menschen verwirren und vernebeln. Da kann die Haltung des alten Stechlin und seines Autors Fontane, die Dinge immer von zwei Seiten zu sehen und dabei dennoch im Gespräch zu bleiben, besonders lehrreich sein.
Tiefe Humanität
Fontane bildet Gegensatzpaare – hier den liberalen Dubslav von Stechlin, dort die Domina, seine erzkonservative Halbschwester Adelheid. Hier die ruhige, gelassene Armgard, dort ihre kapriziöse Schwester Melusine. Der etwas moralinsaure Ministerialrat von Rex und der flatterhafte Hauptmann von Czako. Die Welt ohne Frauen, in der Dubslav von Stechlin lebt – und die männerlose Welt Adelheids. Das bedeutet, dass alles, wirklich alles, in den Gesprächen in Meinungen und Positionen verpackt wird – und es zu jeder Haltung immer mindestens eine Gegenposition gibt. "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig", davon ist der alte Stechlin überzeugt. Man möchte seine tief humane Haltung gern all jenen Krakeelern entgegenhalten, die sich für verfolgt und entrechtet halten, weil man ihre Meinung nicht teilt.
Der Stechlinsee
Das Herrenhaus und das Dorf Stechlin hat Fontane erfunden, den See aber gibt es tatsächlich, es ist der größte Klarwassersee in Norddeutschland. Sauberes Wasser, kleine Buchten, weite Ausblicke, himmlische Ruhe. Fontane entdeckte den See auf einer seiner Reisen durch die Mark Brandenburg. Er liegt im Norden der Grafschaft Ruppin, fast schon an der Grenze zu Mecklenburg.
Seit Erscheinen des Romans pilgern Fontane-Fans an den See. Der See ist ungewöhnlich tief, an den tiefsten Stellen bis zu 70 m. 2003 wurde eine neue Fischart im See entdeckt und zu Ehren Fontanes Fontane-Maräne genannt.
Im Roman heißt es: "Vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen." Man kann das auch als Botschaft für das Jahr 2022 verstehen.
Weiterführende Links
https://www.kulinaristik.net/wp-content/uploads/2015/05/Gisbertz.pdf
https://www.aerzteblatt.de/archiv/173065/Literarische-Orte-Der-doppelte-Stechlin
https://www.koellerer.net/2018/12/09/theodor-fontane-der-stechlin/
(Jutta Hamberger)+++
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