Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Foto: ©pixabay
28.01.2024 / FULDA -
Im Mai 1940 wird der 21-jährige Wieslaw Kielar von der Gestapo verhaftet und als politischer Häftling nach Auschwitz deportiert. Dort erhält er die Häftlingsnummer 290. Er verlässt das Lager mit den Todesmärschen im Herbst 1944, und überlebt. Auschwitz aber bedeutet für Kielar unentrinnbar lebenslänglich. Auf seinem Grabstein steht: "Wieslaw Kielar 1919-1990. Filmemacher. Literat. Auschwitzhäftling Nr. 290."
"So oder so – Krematorium"
Jedes erste Mal ist noch grausamer als die ersten Male davor. Die alteingesessenen Lagerinsassen haben dafür einen Spruch: "So oder so – Krematorium." Ohne diesen schrecklichen Realitätssinn könnten sie nicht überleben. Sie müssen sich im KZ einrichten. Sie müssen jeden Tag versuchen, dem Lager, der SS und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Und wer fürs eigene Leben etwas tut, tut das oft auf Kosten der Mitgefangenen. Kielar erspart weder sich noch uns diese Ambivalenz. Wer überleben will in der Hölle, tut auch Dinge, die nicht schön, edel, rein und gut sind.
Deshalb ist dieses Buch "keine Heldengeschichte, es ist die Erzählung des Überlebens von Nummer 290. Konsequent aus dieser Perspektive heraus beschreibt Kielar das Universum Auschwitz. Szene für Szene entwirft er die Lebens- und Todeswelt eines Ortes, den es niemals hätte geben dürfen. (…) Es scheint, als habe Kielar alles beschreiben wollen. Das Fürchterliche und das Glück. Den Zufall des Überlebens, wie auch die Allgegenwart der Vernichtung. Das Nebeneinander von Liebe und Tod in Auschwitz." (aus dem Vorwort)
Zentral im Buch sind auch die Schilderungen seiner Freundschaft zu Edek Galinski. Monatelang planen beide die Flucht aus dem Lager, am Ende flieht Galinski mit seiner Geliebten Mala Zimetbaum. Sie gelangen zwar aus dem Lager, werden aber gefasst, und nach unfassbaren Quälereien vor den Augen aller hingerichtet. Diese Flucht und ihr blutiges Ende werden zu einer Art Mythos im Lager. Die Liebesgeschichte zwischen diesen beiden ist übrigens so etwas wie der Nukleus von "Anus Mundi". Ermuntert von seiner Ehenfrau nimmt Kielar in den 1960er Jahren an einem Schreibwettbewerb des Internationalen Auschwitz-Komitees teil und gewinnt mit der Geschichte über Mala und Edek. Danach setzt er sich daran, seine Erinnerungen im Konzentrationslager festzuhalten.
Entwicklungsroman aus der Hölle
Kielar baut seinen Text szenisch auf, er schildert genau, was sich ereignet und erspart dem Leser nichts. Er wächst und reift, man hat mit gutem Recht von einem Entwicklungsroman im Zeichen des Bösen gesprochen. Denn überleben muss er lernen, und das geht nicht ohne Opfer ab. Damit konterkarierte Kielar auch die offizielle polnische Lesart vom nur heldenhaften politischen Widerstand, was ihm in seiner Heimat einige Vorwürfe einbrachte. Aber – ist der Widerstand, ist das Überleben wirklich weniger heldenhaft, wenn statt mit Hollywood-Tinte mit Realismus erzählt wird? Wer überlebt, muss wissen, was er überlebt, und kann das seinen Lesern nicht ersparen. Auschwitz war nicht pathetisch, sondern unbarmherzig. Jeder musste dauernd mit nicht aushaltbaren Ambivalenzen klarkommen. Eine Szene aus Kapitel 15 mag dies verdeutlichen:
"Zu einem kleinen Plausch ging ich oft in die Leichenhalle. Gienek Obojski hatte von irgendwo her Rohkartoffeln organisiert. Im Keller stand ein Koksöfchen (ein ‚Kokser‘). Auf dem Ofen brieten wir Kartoffelpuffer. Wir saßen damals auf den ‚Särgen‘ um das glühende Öfchen herum, die Kartoffelpuffer brutzelten, ihr angenehmer Geruch reizte verlockend die Nase und tötete den widerlichen Gestank des Chlors, mit dem die dort gelagerten Leichen bestreut wurden. Wir waren mit den Leichen bereits so vertraut, dass sie auf uns gar keinen Eindruck mehr machten. Ich spielte oft Mundharmonika, und Ali sang. Es herrschte eine nette Stimmung, wie bei einem Pfadfinderfeuer. (…) Wir brauchten keine Angst zu haben, dass uns hier jemand überraschen könnte. Alle mieden den Keller. Das war ausschließlich unser Platz. Hie bedrohte uns nichts. Hier fühlten wir uns am freiesten."
Die Bedeutung von Kielars Buch
Anus Mundi" erschien 1972 in Polen, 1979 dann auf Deutsch im S. Fischer Verlag und war ein Paukenschlag. Das lag mit Sicherheit auch daran, dass 1979 das Jahr der Erstausstrahlung der US-Serie "Holocaust" war – die wirkungsvollste Konfrontation der Deutschen mit dem Massenmord an den Juden, die es bis dato gegeben hatte. Der SPIEGEL machte das Cover "Anus Mundi" zum Titelbild und druckte insgesamt sechs Vorabfolgen ab. Das Buch ist Lagerliteratur, gleichzeitig Bericht eines Überlebenden und Zeugenaussage. Kielar hat Auschwitz von den ersten bis zu den letzten Tagen erlebt. Er wurde Zeuge, wie die industrielle Vernichtung von Menschen dort sukzessive ausgebaut und perfektioniert wurde. Er durchlief viele Stationen im Lager und lernte seine Organisationsstruktur gründlich kennen. Er stieg auf in der Lagerhierarchie, was sein Überleben erleichterte. Er hatte Einblicke, die ‚normale‘ Häftlinge nicht hatten oder haben konnten. Auch das macht sein Buch so wertvoll.
In den 1990er Jahren wurde es still um "Anus Mundi", obwohl der Text in einer Reihe mit den Werken von Kertész, Levi, Borowski, Klüger u.a. zu nennen ist. Auch in der Auschwitzliteratur taucht er so gut wie nicht auf, Kielar wird auch nicht unter den prominenten Häftlingen des Lagers geführt. Kielar ist keiner von denen, die zu den Jahrestagen, Befreiungsjubiläen oder offiziellen Ehrungen eingeladen wurden. Er wurde keine Berühmtheit in Intellektuellenkreisen, war kein Talkshow-Gast, besuchte keine Schulen.
Kielars Buch (wieder) zu entdecken, macht eines in erschreckender Deutlichkeit klar: Die Konzentrationslager waren die brutal-systematische Zuspitzung der Rechtlosigkeit des NS-Staats. Wer danach "Nie wieder!" nur als Formel denkt, dem ist nicht zu helfen.
Weiterführende Links
Vorabdruck von "Anus Mundi". Spiegel 11/79, 11.03.1979: https://www.spiegel.de/politik/niemand-kommt-hier-raus-a-0755f1d8-0002-0001-0000-000040350411
Auschwitz – eine Generation fragt. Spiegel 06/79, 04.02.1979: https://www.spiegel.de/politik/auschwitz-eine-generation-fragt-a-051c5663-0002-0001-0000-000040351794
Mengeles Malerin, SZ 17.05.2010: https://www.sueddeutsche.de/leben/auschwitz-zeichnungen-mengeles-malerin-1.255756
Sie malte um ihr Leben, Arolsen Archives 29.07.2023: https://arolsen-archives.org/news/dinah-babbitt/
Schneewittchens Alptraum – Überleben durch Talent. SZ 17.10.2010: https://www.sueddeutsche.de/kultur/ueberleben-durch-talent-schneewittchens-albtraum-1.696655
Der stille Held von Auschwitz – Fredy Hirsch. Deutschlandfunk 17.01.2024: https://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-ueber-fredy-hirsch-der-stille-held-von-100.html
(Jutta Hamberger)+++
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