Was wir lesen, was wir schauen (88)

Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern

Die deutsche Fußballnationalmannschaft der Frauen 2023. Frauen, Fußball und Gleichberechtigung – das war lange kein Thema. So erfolgreich die Fußball-Frauen auch waren, von Gleichberechtigung kann keine Rede sein – nicht bei den Trainingsbedingungen, nicht bei den Honoraren
© Wikipedia/Steffen Prößdorf CC BY-SA 4.0

10.03.2024 / FULDA - "Was die Welt Frauen verdankt"



Am 8. März fand der Internationale Weltfrauentag statt. Seit es diesen Tag gibt, seit in vielen Städten Frauenwochen veranstaltet werden, frage ich mich jedes Jahr im März: Warum zur Hölle sollen Frauen und ihre Rechte bzw. ihre Benachteiligung nur an einem einzigen Tag des Jahres im Fokus stehen? Warum ist das nicht grundsätzlich immer auf der politischen Agenda?

Unsichtbare Frauen

Hand aufs Herz: Frauen haben viel erreicht, auch gemeinsam mit Männern. Aber es ist immer noch eine ganz schön weite Strecke bis zur Gleichberechtigung. Unsere Welt ist nach wie vor männlich konnotiert, die weibliche Sicht fehlt oft ganz. Das überrascht nicht, denn Geschichtsschreibung war lange exklusiv Männersache – und die sahen die Welt nun mal durch ihre Augen. Bis heute sind weibliche Leistungen weniger sichtbar als die von Männern. Es wird besser, ja – aber nach wie vor sind die Hürden für Frauen höher als für Männer. Dazu zählen auch fehlende KiTa- und Pflegeplätze – da Frauen den Löwenanteil der Care-Arbeit leisten, sind das schmerzlich-relevante Zahlen.

Die Autorin und Historikerin Kerstin Wolff rückt in ihrem sehr unterhaltsamen Buch anhand von 30 Gegenständen weibliche Leistungen ins gebührende Scheinwerferlicht, die Frankfurter Illustratorin Tatjana Prenzel hat das alles bebildert. Viele dieser Gegenstände, so die Autorin, stünden symptomatisch für gesellschaftliche Entwicklungen. Frauen waren immer wieder mit denselben Argumenten konfrontiert: Das können Frauen nicht. Das dürfen Frauen nicht. Kerstin Wolff stellt in ihrem Buch Frauen vor, die sich nicht aufhalten ließen und bewiesen: Wir können sehr wohl, hört auf, uns dauernd Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Darunter sind Bergsteigerinnen, die Mütter des Grundgesetzes, Fußballspielerinnen, Architektinnen, Ruderinnen und Frauenrechtlerinnen. Kerstin Wolff betrachtet aber auch Phänomene weiblicher Benachteiligung von Dienstmädchen bis Fräulein, und genauso Akte der weiblichen Befreiung von Hose über Fahrrad bis Pille.

Lotte Specht und der Deutschen liebstes Hobby

Fußball war lange Männersache, das galt für den Rasen genauso wie für die Besucherplätze im Stadion. Dabei wollte schon Anfang 1930 eine junge Frankfurterin Fußball spielen. Die 19-jährige Lotte Specht suchte über eine Zeitungsannonce fußballbegeisterte Mitspielerinnen und wurde so zur Pionierin. Lotte Specht ließ sich nicht ermutigen und sagte sich, was Frauen sich bis heute immer sagen: "Was die Männer können, können wir auch!" 40 Frauen meldeten sich auf die Anzeige, mit ihnen gründete sie am 1. März 1930 den 1. Deutschen Damen Fußballclub. Von Anfang an gab es Kritik, Vorurteile, massive Behinderungen – und nach nur einem Jahr wurde der Club wieder aufgelöst. Die 30er Jahre waren keine gute Zeit für Emanzipation.

In der NS-Zeit war an Frauenfußball nicht zu denken, aber auch nach dem Krieg wurde nichts besser, nicht einmal nach dem ‚Wunder von Bern‘. Zwar wurden wieder Frauenfußballvereine gegründet, aber der 1955 gegründete DFB verbot (!) seinen Mitgliedsvereinen, Frauenabteilungen zu gründen oder Frauenfußball zu fördern. Die Frauen kickten trotzdem, aber außerhalb des DFB. Ende der 1960er Jahre spielten bereits 40.000 bis 60.000 Frauen Fußball – der DFB schäumte, weil das Verbot mit quasi fußballerischer Eleganz unterlaufen wurde. 1970 endlich hob er das Verbot auf, aber nicht, ohne den Frauenfußball mit besonderen Regeln zu versehen und so zu erschweren.

Und heute? Ist der DFB – vermutlich – stolz auf seine erfolgreichen Fußballerinnen. Und Schiedsrichterinnen. Und Zuschauerinnen im Stadion. Also alles gut? Leider nicht. Bis heute hinkt der DFB der internationalen Entwicklung hinterher und verzögert, was in anderen Nationalmannschaften längst Usus ist: gleich Prämien für Spielerinnen und Spieler.

Bertha Benz und das Auto

Noch so ein deutsches Lieblingskind – das Auto. "Achtung, die folgende Info könnte der ein oder anderen liebgewonnenen Vorstellung ein paar Kratzer verpassen. Vieles spricht nämlich dafür, dass die erste Person, die in Deutschland eine längere, zusammenhängende Strecke zurücklegte, eine Frau war. (…) Sie fuhr mit ihren zwei Söhnen 1888 von Mannheim nach Pforzheim, um der Welt zu beweisen, dass es möglich ist, einen motorbetriebenen Wagen mit Passagieren auch über eine größere Strecke ohne Pferde zu bewegen." Diese Frau war Bertha Benz. Ihr Mann Carl hatte die technischen Ideen, und Bertha wusste, wie man sie realisieren und finanzieren konnte. Nach ihrer Werbefahrt kam der Verkauf von Autos in die Gänge. Mit anderen Worten: Ohne Bertha Benz kein weltweiter Siegeszug des Autos.

Und wie sieht es heute mit Autos und Frauen aus? Oft bitter. Crash Test Dummies sind nach wie vor männlich. Das führt bis heute dazu, dass Frauen bei Autounfällen in 47 Prozent der Fälle schwerere Verletzungen erleiden als Männer. Dennoch sind weibliche Crash Test Dummies nicht vorgeschrieben. Sollten Sie sich noch an die Fernseh-Sendung "Der 7. Sinn" (1966-2005) erinnern, wissen Sie, wie sexistisch man in dieser Sendung mit dem Thema Frau am Steuer umging. Frauen galten als Ärgernis und Gefahr im Verkehr – ein gutes Beispiel dafür, wie lange Sexismus die Norm und leider nicht die Ausnahme war.

Margarete Schütte-Lihotzky und der Kampfplatz Küche

In der Weimarer Republik entwickelte sich Deutschland technologisch rasant – auch für Frauen. Als dieser Fortschritt endlich auch in der Küche ankam, war das ein Meilenstein. Der größte war die Erfindung der Einbauküche, die von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entwickelt wurde. Deren besonderes Interesse galt dem modernen Wohnungsbau. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte Wohnungsnot, moderne Wohnsiedlungen wurden gebaut, soziale Wohnbauprojekte sollten die Situation verbessern. Zu diesen Projekten gehörten z.B. auch die Ernst-May-Siedlungen in Frankfurt, benannt nach ihrem Architekten Ernst May. In dessen Team arbeitete Margarete Schütte-Lihotzky und übernahm die Küchenplanung. Das, was die Siedlung auszeichnete – Rationalisierung und Typisierung – übertrug sie auf die Küche und entwarf eine Standardküche. In mehreren Varianten wurde sie in der Ernst-May-Siedlung eingebaut.

So weit, so gut, jetzt aber wird es aufregend anders: Die Architektin fragte Frauen, wie eine funktionale Küche aus ihrer Sicht aussehen müsse. Hausfrauenverbände hatten längst gefordert, die Küche müsse zeit- und arbeitssparend gestaltet werden, v.a., weil die meisten Frauen ja auch noch berufstätig waren. Also wurden Wege in der Küche verkürzt, Arbeitshöhen für verschiedene Tätigkeiten sinnvoll angeordnet und mehr Stauraum geschaffen. Ihre Erkenntnisse bestimmen den Küchenbau bis heute. Ach ja – Margarete Schütte-Lihotzky erfand nicht nur die Küche neu, sie wurde in der Zeit des Nationalsozialismus auch zur erbitterten Widerstandskämpferin.

Mal ganz davon abgesehen davon, dass "Tomate, Fahrrad, Guillotine" sehr unterhaltsam zu lesen ist, ermutigt und ermuntert es auch dazu, öfter mit weiblicher Brille durch die eigene Stadt zu laufen und sich zu fragen: Was wollen Frauen? Was können wir dazu beitragen? Denn das weiß frau nur zu genau: Es reicht nicht aus, in Frauenzirkeln die immer gleichen Themen und Probleme zu besprechen. Frauenthemen gehören auf die politische Agenda – immer.

Weiterführende Links

Über Lotte Specht, Pionierin des Fußballs: https://www.fr.de/sport/sport-mix/mutige-pionierin-11439001.html

Sendung "Der siebte Sinn" – Frauen können nicht autofahren: https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/frauen-am-steuer-der-7-sinn-lehrt-frauen-das-autofahren-100.html

Über Margarete Schütte-Lihotzky: https://www.spiegel.de/geschichte/architektin-margarete-schuette-lihotzky-ich-bin-keine-kueche-a-cfcc84a5-5846-491c-9b2f-f345cfd1732d

Über die Ernst-May-Siedlungen in Frankfurt: https://ernst-may-gesellschaft.de/wohnsiedlungen

Der Charme des ‚neuen‘ Frankfurt: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/siedlungen-des-neuen-frankfurt-der-charme-der-moderne-17146622.html

Zeitgenössischer Werbefilm über die Frankfurter Küche: https://www.youtube.com/embed/41pyty0-lgs

https://www.lesejury.de/kerstin-wolff/buecher/tomate-fahrrad-guillotine/9783957286932

https://www.hessenschau.de/kultur/neues-buch-ueber-frauengeschichte-was-tomaten-paragrafen-und-ein-fussball-mit-emanzipation-zu-tun-haben-v1,buch-tomate-fahrrad-guillotine-100.html

https://literaturkritik.de/wolff-tomate-fahrrad-guillotine,29751.html

https://www.owz-zum-sonntag.de/kulturforum-hofgeismar-dr-kerstin-wolff-stellt-ihr-buch-tomate-fahrrad-guillotine-vor/cnt-id-ps-d10b4783-b57d-4bf0-9e6c-9f5caf69964c

+++Jutta Hamberger+++

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