Was wir lesen, was wir schauen (79)

Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben

Ilse mit ihren Schwiegereltern Albrecht und Wilma und den Kindern Martin und Beate am 25. Dezember 1961 in Uelzen
Fotos: © DVA

05.11.2023 / FULDA - 2002 erschien "Mein verwundetes Herz", Doerrys bewegendes Buch über seine Großmutter Lilli Jahn. Sie war Jüdin, eine kulturbegeisterte, lebensfrohe Ärztin und liebevolle Mutter. Ihr (christlicher) Ehemann ließ sich 1942 von ihr scheiden, um seine schwangere Geliebte zu heiraten. Damit war Lillis Weg in den Tod vorgezeichnet, sie wurde verhaftet, ins Arbeitserziehungslager Breitenau und von dort nach Auschwitz deportiert, wo sie 1944 ermordet wurde.

Ein Schicksal wie Tausende



Ein Schicksal von sechs Millionen – das vielleicht deshalb besonders berührend ist, weil  - wie durch ein Wunder - der Briefwechsel zwischen Lilli und ihren Töchtern erhalten ist. Lilli Jahn und ihre älteste Tochter Ilse waren leidenschaftliche Briefschreiberinnen. Die Briefe zerreißen einen schier, denn sie lassen uns Lillis Schicksal und das ihrer Kinder hautnah erleben.

Nun hat Martin Doerry ein zweites Buch über die Familiengeschichte verfasst – diesmal über seine Mutter Ilse, Lillis älteste Tochter. Die war 14 Jahre alt, als die Mutter verhaftet wurde. Mit bewunderungswürdiger Selbstverständlichkeit übernahm sie die Fürsorge für ihre kleinen Geschwister und versuchte gleichzeitig, ihre schulische Ausbildung abzuschließen. Die Kinder lebten in der Motzstraße in Kassel, waren aber auf sich gestellt. Als Halbjuden wurden sie ausgegrenzt, kein Erwachsener stand an ihrer Seite, wenn es darum ging, mit Hunger, Bombardements, der Angst um ihre Mutter und der Sorge um den untätigen Vater umzugehen. Am Ende dann die Gewissheit: Die Mutter wird nie wieder zurückkommen.

Das "feine Schweigen" im Nachkriegsdeutschland

"Die Geschichte meiner Mutter steht für das Schicksal Tausender Menschen, die ihre Mutter oder ihren Vater im Holocaust verloren haben, die die Jahre der Verfolgung überstanden und danach mit diesen Verletzungen weiterleben mussten", so Doerry. Nach dem Krieg geht Ilse nach England, wo die Großmutter und Lillis Schwester leben, und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Dort trifft sie den deutschen Jurastudenten Jürgen Doerry, verliebt sich und heiratet ihn. 1952 geht das Paar zurück nach Deutschland, Doerry macht Karriere als Richter, Ilse gibt auf Wunsch ihres Mannes früh die Berufstätigkeit auf und sorgt für ihre junge Familie. Ihr Schwiegervater ist überzeugter NS-Parteiangehöriger seit 1933 und überzeugter Antisemit, warnt den Sohn vor der Heirat mit einer Halbjüdin und den "schwarzhaarigen, hakennasigen jüdisch aussehenden Kindern", die zwangsläufig aus dieser Ehe hervorgehen würden.

Jürgen setzt sich durch und heiratet Ilse – die fortan mit einem Nationalsozialisten als Schwiegervater leben muss. Sie schließt mit ihm einen Schweigepakt – er sagt nichts Falsches, sie bleibt still. So wird das Thema Judentum weitgehend ausgespart.

Ilse schweigt noch zu viel mehr. Als Ehefrau eines Richters muss sie regelmäßig repräsentative Pflichten übernehmen und begegnet dabei immer wieder Nationalsozialisten, die nach Kriegsende ihre juristische Karriere bruchlos weiterführen konnten. Man darf nicht vergessen: Ungefähr 90 Prozent der westdeutschen Richter waren damals ehemalige Nationalsozialisten. Auch dazu schweigt Ilse. Sie hat gelernt: Auffallen kann tödlich sein, also passt sie sich bis zur Selbstaufgabe an. Die Angst bleibt – jeder ältere Mann, dem sie begegnet, könnte ein Täter sein, könnte an der Ermordung ihrer Mutter beteiligt gewesen sein.

Ilse schweigt 40 Jahre lang. Sie schweigt bis zur Veröffentlichung von "Mein verwundetes Herz", erst dann begreift sie die Biographie ihrer Mutter als Auftrag und Mission. Mit ihrem Sohn Martin reist sie fortan zu Lesungen durch Deutschland, aber auch durch England und Israel. Erst jetzt spricht sie mit ihren Kindern über das, was im Krieg geschehen war. Doerry zitiert den Historiker Fritz Stern, der vom "feinen Schweigen" gesprochen hatte, mit dem die deutsche Nachkriegsgesellschaft die Täter beschützte. Es war ein Schweigen, das aber auch viele Opfer und deren Nachkommen wahrten, um so die Erinnerungen an die furchtbare Zeit zu verdrängen.

Misslungene Emanzipation

Ilse schweigt auch, als ihr Mann ihr die Berufstätigkeit verbietet, weil er den Eindruck vermeiden will, er könne seine Frau und Familie nicht allein ernähren. Ein Schicksal, das Ilse mit vielen Frauen ihrer Generation teilt. Sie fügt sich. Es fällt schmerzlich auf, um wie viel weniger emanzipiert die deutsche Gesellschaft der 1950er Jahre war als die der 1920er Jahre – das liberale Bürgertum der Weimarer Republik war diesbezüglich ziemlich modern, Lilli studierte Medizin und praktizierte als Ärztin, auch wenn ihr Mann Ernst das zunächst auch nicht sehr gern sah. Die Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten nicht nur Juden und Andersdenkende, sie drehten auch die gesellschaftliche Entwicklung und Emanzipation zurück: Der Bewegungsspielraum von Frauen wurde auf Ehefrau, Hausfrau und Mutter reduziert.

Ein Ideal, das die deutsche Gesellschaft nach dem Krieg nahtlos übernahm. Bis 1958 durfte ein Ehemann den Arbeitsvertrag seiner Ehefrau nach eigenem Ermessen und ohne ihre Zustimmung fristlos kündigen. Bis 1958 hatte der Ehemann das alleinige Bestimmungsrecht über Frau und Kinder. Er verwaltete auch den Lohn seiner Frau. Erst 1962 durften Frauen eigene Bankkonten eröffnen. Und erst 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen.1977 schließlich wurde die Bestimmung des BGB abgeschafft, dass Frauen nur mit Erlaubnis ihres Ehemannes berufstätig sein durften. Sie sehen, der Weg zu Frauenrechten war lang, mühsam und mit vielen Hindernissen gepflastert.

Der Antisemitismus ist nicht verschwunden

Was macht all das mit einem Menschen? Doerry spricht vom "beschädigten Leben" seiner Mutter, das einerseits durch die frühen Verlusterfahrungen geprägt gewesen sei, andererseits aber auch durch die permanenten Erfahrungen mit offenem oder latentem Antisemitismus – mit hingeworfenen Bemerkungen, rassistischen Witzen oder offener Ablehnung. Als Halbjüdin war Ilse eine Außenseiterin.

Das Buch lässt einen erahnen, was Ilse zu erdulden hatte und was Deutsche für normal hielten. Ich muss die Zeitform korrigieren: Was viele Deutsche weiterhin für normal halten. Dieses Buch ist ein Plädoyer, sensibel zu werden für zweideutige Judenwitze, rassistische Klischees und Beleidigungen und dagegen den Mund aufzumachen. Es ist aber auch eine Aufforderung, Brandstiftern Einhalt zu gebieten und sich klar und deutlich an die Seite der Juden in unserem Land zu stellen.
(Jutta Hamberger)+++

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