Was wir lesen, was wir schauen (75)

Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen

Dreimal Virginia Woolf: auf einem Gemälde von Roger Fry (ca. 1917), auf der berühmten Fotografie von George Charles Beresford (um 1902) und auf einem Gemälde von Christiaan Tonnis (1998)
© Wikipedia/Christiaan Tonnis CC BY_SA 2.0

03.09.2023 / REGION - Vor zwei Wochen küsste der spanische Fußball-Funktionär Rubiales die frisch gebackene Weltmeisterin Jennifer Hermoso vor Millionen von Zuschauern ohne deren Einwilligung auf den Mund. Die war überrumpelt, dann aber sagte sie mit aller Deutlichkeit: "Das hat mir nicht gefallen."

Was Männer für normal halten



Die WM endete so mit einem nicht zu entschuldigenden Kuss-Eklat. Die Stürmerin und ihre Kolleginnen forderten Konsequenzen, und fanden dabei weltweit Unterstützung. Man darf die Gegenfrage stellen: Hätte Luis Rubiales auch Iker Casillas oder Iniesta auf den Mund geküsst, als 2010 die Spanier die WM in Südafrika gewannen? Oder Angela Merkel beim WM-Triumph 2014 Kapitän Philip Lahm? Eben.

Hätte nicht gerade die in alle Welt übertragene Siegerehrung Jennifer Hermoso schützen sollen? Ich zitiere aus der Sportschau vom 21. August: "Eigentlich (…) sollten Frauen gerade im Rampenlicht vor derartigen Übergriffen sicher sein. Das sind sie aber nicht. Das sagt viel darüber aus, was Männer für ‚normal‘ halten, was sie sich erlauben können – Frauen eben nicht."

Alles eine Frage von Status und Geld

Warum erzähle ich Ihnen von Jennifer Hermoso, wenn es in diesem Text doch um Virginia Woolfs großartigen Essay geht? Ganz einfach: Als Woolf ihren Essay vor 95 Jahren schrieb, war sie voller Hoffnung, wie viel sich 100 Jahre später zum Besseren geändert haben würde. Sie würde sich wohl eher wundern, wie viel sich noch immer nicht verändert hat. Sie hätte mit den Sportlerinnen gelitten, die heute mit vielen Zuschreibungen, Einordnungen, Begrenzungen und Beschränkungen durch Männer leben müssen. Noch immer gilt: viele Männer meinen, Frauen sagen zu müssen, was sie tun können und dürfen – und was man alles mit ihnen tun kann und darf.

1928 war Virginia Woolf beauftragt worden, zwei Vorträge zum Thema "Frauen und Literatur am Frauen-College der Universität Cambridge zu halten, einem vom zwei (!) Frauen-Colleges in Großbritannien. Die beiden Vorträge wurden zur Grundlage ihres Essays, der zum Witzigsten und Brillantesten gehört, was man über Männer und Frauen lesen kann. Es beginnt mit zahlreichen Verbotsschildern – Frauen dürfen nicht auf den Rasen, Frauen dürfen nicht in die Bibliothek, Frauen bekommen schlechteres Essen als die männlichen Kollegen. Alles eine Frage des Geldes: Universitäten für Männer sind so viel besser ausgestattet als die wenigen für Frauen. Das macht Woolf zum Ausgangspunkt ihres Essays: Warum sind Frauen eigentlich arm, und zwar signifikant ärmer als Männer? Wieso haben sie nicht einmal ein Zimmer für sich allein – was eine Grundbedingung fürs Nachdenken und Schreiben wäre? Wieso verweist man sie auf Küche und Kinder, verwehrt ihnen Bildung und macht überdies auch noch ihr Schreiben lächerlich?

Der Blick der männlichen Experten

Nach nur wenigen Sätze ist man sofort drin in diesem Essay. Immer wieder spricht Woolf uns, ihre Leserinnen, direkt an: "Ist Ihnen bewusst, dass Sie vielleicht das am häufigsten abgehandelte Tier des Universums sind?" Das nämlich ist das Ergebnis ihrer Recherche in der British Library, in der sehr viele, wirklich sehr viele Bücher über Frauen stehen, die allerdings alle von Männern geschrieben wurden. Die umgekehrte Recherche ergibt das umgekehrte Bild: Keine Bücher von Frauen über Männer.

Wenn Männer das Fehlen großer Literatur von Autorinnen als Ausweis ihrer Minder-Begabung nehmen, so weist Virginia Woolf auf die Umstände hin, unter denen Frauen leben mussten und, sofern sie viel Kraft aufbrachten, schrieben. Sie nutzt dafür Shakespeares fiktive Schwester Judith, die so begabt war wie er, seine Theater-Leidenschaft teilte, aber als Frau weder an seiner Ausbildung und Bildung noch seiner Tätigkeit am Theater teilhaben konnte. Sie steht für all die Frauen, denen Männer vorschrieben, wie sie leben sollten und die deshalb ihre Potenziale nie nutzen konnten.

Woolf findet in den vielen Expertenbüchern viel Wut und Zorn, ihre Erklärung dafür haut einen noch heute um: Das männliche Ego braucht das weibliche als Spiegel, um selbst größer, schöner, stärker, klüger zu wirken. Es ist ein vermaledeiter Spiegel, denn er funktioniert nur, wenn einer größer und stärker und der andere im gleichen Maß kleiner und schwächer wird. Frauen abzuwerten, ist in den Augen dieser Experten also notwendig, um sich selbst aufzuwerten.

Sie sehen schon – leider ist dieser fast 100 Jahre alte Text nicht historisch, sondern noch immer brandaktuell. Bestimmt fallen Ihnen Beispiele aus jüngerer Zeit ein – etwa der Umgang mit Politikerinnen in den Sozialen Medien, der vor Hass, Sexismus, Morddrohungen, Beleidigungen nur so trieft. Frauen werden in allem strenger beurteilt, von der Frisur über die Klamotten bis hin zu ihren Äußerungen – und natürlich gilt das genauso auch für alle anderen Lebensbereiche jenseits des Internets. Ob es die Öffnung der Universitäten für Frauen war (1900), die Einführung des Wahlrechts für Frauen (1918), die erste weibliche Tagesschausprecherin (1976) oder die erste weibliche Schiri bei der Fußball-WM der Männer (2022) – stets waren diese Ereignisse begleitet von einem misogynen Männer-Chor, der um seine Privilegien fürchtete.

Was hätte Shakespeares Schwester geschrieben?

Wer das Sagen hat, bestimmt, was in Geschichtsbüchern steht. Das gilt nicht nur für Despoten wie den Herrn im Kreml, der gerade die russische Geschichte in eine Putineska verwandelt hat. Das gilt für alle Herrscher zu allen Zeiten. Sie können es wie Virginia Woolf machen und suchen, was sie über das Leben von Frauen des Mittelstands in Elisabethanischer Zeit finden, oder auch im 18. Jahrhundert – wenig bis nichts. Sie waren ‚nur‘ Frauen, und deshalb nicht interessant genug. Der Blickwinkel war immer männlich.

Hier zumindest würde Virginia Woolf sich heute mit uns freuen: Frauen haben ihren Platz in vielen Bereichen erobert. Aber sie würde auch sehen, wie fragil diese Erfolge nach wie vor sind – denken Sie nur an die Zurück-an-die-Herde-Mentalität während der Corona-Pandemie. Auch die Sache mit dem Geld ist nicht gelöst – Frauen verdienen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt pro Stunde 18 Prozent weniger als Männer. Freuen würde Virginia Woolf sich bestimmt darüber, dass Autorinnen heute aus den Bestseller-Listen nicht mehr wegzudenken sind.

Wenn Sie Virginia Woolfs Essay noch nicht besitzen, ändern Sie es bitte, das Buch ist eine bereichernde Lektüre. Wenn Sie nicht das englische Original lesen wollen, empfehle ich Ihnen die Ausgabe des Kampa-Verlags mit der Übersetzung durch Antje Rávik-Strubel (Deutscher Buchpreis 2022). Sie hat auch ein sehr lesenswertes Nachwort zu Woolfs Essay geschrieben. Und: Machen Sie es wie Virginia Woolf: Gewöhnen wir uns die Freiheit an und haben wir den Mut, "genau das zu schreiben, was wir denken." Dann vielleicht wird Shakespeares Schwester, jene tote Poetin, die nie eine sein durfte, endlich lebendig – es wäre alle Mühe wert.

Weiterführende Links

Ein Zimmer für sich allein – Autorinnen feiern späte Erfolge: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-zimmer-fuer-sich-allein-autorinnen-feiern-spaete-erfolge-dlf-kultur-c24c4938-100.html

Virginia Woolfs Forderung bleibt aktuell: https://www.derstandard.de/story/2000125378777/virginia-woolfs-forderung-nach-einem-zimmer-fuer-sich-allein-bleibt

Zum Gender-Pay-Gap in Deutschland: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-GenderPayGap/_inhalt.html(Jutta Hamberger)+++

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