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Pollen, wollt ihr ewig fliegen? - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Nach dem kümmerlichen Winter die Frühlings-Invasion: Es gab tatsächlich ein wenig Schnee – aber jetzt sind die Frühlingsboten da. Nach dem kümmerlichen Winter die Frühlings-Invasion: Es gab tatsächlich ein wenig Schnee – aber jetzt sind die Frühlingsboten da.
Fotos: Michael Otto, Künzell

07.03.2025 / REGION - Haben Sie auch die Nase voll? Mein Mitgefühl! Aber es hilft alles nichts: Wir müssen uns frei machen. Wer sich selbst unterdrückt, bringt sich in Gefahr. Wer nicht frisch und fröhlich los-niest, erzeugt einen Luftdruck von ungefähr 39 Kilopascal in seinem Mundkessel. Wenn’s blöd läuft, kann dadurch sogar das Trommelfell platzen. Langweile ich Sie? Dann gehören Sie vermutlich nicht zu denen, die ständig niesen müssen. Oder denen die Augen kratzen. Oder denen das Gesicht aufquillt, als wäre man in einen Wespenschwarm geraten. Vielleicht sind Sie einfach nicht empfindsam genug, um es zum Allergiker zu bringen. Glückwunsch!



Wissen Sie, woran man einen Frühlings-Patienten erkennt? Wahrscheinlich hat ER bei strahlendem Sonnenschein einen Schal um Mund und Nase geschlungen. Wahrscheinlich trägt SIE eine überdimensionierte Sonnenbrille. Bestimmt sind die Brillengläser mit einer gelben Pollen-Schicht überzogen. So ähnlich sehen unsere Autos aus, wenn mal wieder eine Sturmfront eine Ladung Sahara-Staub über uns abgeladen hat. Wahrscheinlich hält SIE unentwegt ein Taschentuch griffbereit. Wahrscheinlich schleppt ER sich mit letzter Kraft in Richtung Haustür. Vielleicht kullern IHR Tränen über die Wangen. Und bevor wir ihr gratulieren können zum Ende ihrer trostlosen Beziehung, wehklagt sie: "Ach, Mensch, grausam. Die Pollen sind schon da!"

Haben Sie die berühmtesten unserer Frühlingsgedichte schon mal mit den Augen eines Allergikers gelesen? Zum Beispiel dieses hier von Eduard Mörike, der Mutter aller Frühlings-Gedichte:

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.

Da können wir ja gleich unsere Glubscher mit Zwiebelwasser auswaschen! Auch bei dem hier, von Ludwig Uhland: "Die Welt wird schöner mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag, das Blühen will nicht enden. Es blüht das fernste, tiefste Tal: Nun, armes Herz, vergiß der Qual! Nun muß sich alles, alles wenden." Gab’s zu seiner Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa noch keinen Pollenflug? Der sensible Dichter hat’s wohl einfach ignoriert.

Frühling, das heißt für zwölf Millionen Deutsche (weltweit: über 400 Millionen Menschen): Nur daheim bist Du sicher vor den unsichtbaren Angreifern. Jeder Windhauch treibt Dir tausende von Pollen in Augen und Nasenlöcher. Es juckt, beißt, Tränen fließen; die Nase explodiert beim Versuch, die Plage herauszuniesen. Hustenanfälle, Müdigkeit, Ohrendruck, Kopfschmerzen. Die Pollenallergie, die mancher immer noch verharmlosend Heuschnupfen nennt, ist eine wochenlange Folter für die Geplagten. Mit Mitgefühl durch die Pollen-resistente Rest-Bevölkerung kann man nicht rechnen: Wofür gibt’s Nasensprays, Augentropfen, Pastillen und Taschentücher? Stellt Euch mal nicht so an, ihr Frühlings-Schwächlinge. Mal langsam: Wenn die Unbedarften nicht aufpassen, werden sie vielleicht auch bald erwischt. Der Klimawandel lässt die Zahlen explodieren: Pollen fliegen immer früher, werden stetig aggressiver, finden immer mehr Opfer – und bleiben bis in den Winter aktiv.

Der Waschlappen-Winter

An allem ist dieser Waschlappen-Winter schuld. Wird höchste Zeit, dass er verschwindet. War die jetzige "kälteste Jahreszeit" nicht eher ein drei Monate dauernder zäher November? Neblig, Wolken-verhangen, hin und wieder hat’s geregnet. Gelegentlich schaffte es die Sonne von den Bergen auch mal runter ins Flachland. Man erinnert sich kaum noch – aber Mitte Januar und in der dritten Februarwoche soll es sogar mal "strenge Nachtfröste" gegeben haben, minus 11 Grad in Fulda und Bad Hersfeld. Das bisschen Kälte änderte freilich nichts an der luschigen Aufführung dieses "14. Mildwinters in Folge".

Eines ist mal gewiss: Als es noch echte Winter gab, blieben die Pollen ziemlich zahnlos – in den Minus-Nächten kühlte ihre Angriffslust ab. Damals rutschten Ski-Pioniere noch auf Naturschnee umher. In den 20er Jahren gern am Dammersfeld in der Rhön, oberhalb der Schwedenschanze. In den 50er Jahren war der Reesberg das Ski-Paradies der Rhön – die Abfahrt galt als "steilste Strecke außerhalb Bayerns". Winter 1962/63, strengster Winter des 20. Jahrhunderts. Schnee bereits Mitte November. Frostschock über Weihnachten und danach pickelkalt bis Ende Februar, häufig unterhalb der minus 20 Grad. In der Nacht zum 17. Januar 1963 wurde an der Wetterstation Fulda eine landesweite Rekordkälte gemessen: 27,5 Grad minus. "Es lag wochenlang Schnee. Knapp 50 Zentimeter, teilweise sogar in den mittleren Höhenlagen", berichtet der hr-Wetterexperte Stefan Laps, und freut sich: "Das war wirklich Winter vom Feinsten."

Heute ist die vierte Jahreszeit nur noch ein Schatten von einst. Den Skifahrern auf der Wasserkuppe müssen Schneekanonen auf die Spur helfen. In den frostfreien Zweigen und Bäumen gärt schon der Frühling, wenn er laut Kalender noch lange nicht dran ist. Das Millionenheer der Pollen ist startklar, wenn unsere Nasenduschen noch im Winterquartier liegen.

Auf geht’s ins Gebüsch

Wollen wir unseren Feinden mal einen Besuch abstatten? Auf geht’s ins Gebüsch, zur "Gemeinen Hasel". Um mal was Nettes zu sagen: ihre Nüsse schmecken – jedenfalls all jenen, die keine Nuss-Allergie haben. Die Sträucher werden bis zu sechs Meter hoch. An ihren Zweigen baumelt, was Allergiker missmutig betrachten: die sechs bis acht Zentimeter langen "Kätzchen", die sich bereits im Herbst herausbilden und im Januar bereit sind zur Attacke. Jedes Kätzchen beherbergt bis zu zwei Millionen Pollenkörner. Na, da werden für jeden von uns doch ein paar tausend übrig sein, oder? Dank des Klimawandels blüht die Hasel heute drei Wochen früher als in den 50er Jahren. Dauert nicht mehr lange, dann juckt uns die Nase schon an Weihnachten. Hildegard von Bingen wusste, warum wir uns von dem Juck-Busch fernhalten sollten: "Der Haselbaum ist ein Sinnbild der Wollust, zu Heilzwecken taugt er kaum". Die Haselpollen gelten nach der Birke als zweithäufigster Auslöser für Allergien. Diese Woche rät der Pollen-Kalender: Höchste Vorsicht an allen Tagen – Nase zu und durch!

Pappeln wachsen schnell und gerade wie Telegraphen-Masten auf bis zu 45 Meter Höhe. Sie werden bis zu 200 Jahre alt. Frühreife Gesellen sind sie, der Wind verschleppt ihre Pollen schon ab Februar. Die sind allerdings nur für wenige Menschen gefährlich. Das gilt auch für Ulmen, die jetzt im März ihre Hoch-Zeit feiern. Wenn Sie sich in ihre Nähe trauen, können Sie ja mal eine Kostprobe einatmen: rund um den Basaltsee Ulmenstein bei Hofaschenbach. Wunderschöner Wald, inspirierender Weg. Für Pappeln und Ulmen gilt in diesen Wochen: Pollenalarm jeden Tag.

Die Birke mit ihrer hell schimmernden, manchmal weißen Pelle ist eine teuflische Schönheit. 15 Prozent der Deutschen leiden an einer Birkenpollen-Allergie. Als Zierpflanze schmückt "der Schimmel unter den Bäumen" Gärten, Parks und Alleen – und spuckt seinen ätzenden Blütenstaub aus luftiger Höhe auf uns nieder. Können wir dieses Folter-Gewächs auch mal loben? Natürlich! Für 118 Arten von Schmetterlingsraupen sollen Birken eine wahre Futterweide sein. Besen aus Birkenreisig kehren besonders gut, die Finnen schlagen sich beim Saunieren mit Birken-Büscheln auf den Körper, damit die Poren sich öffnen. Holzschuhe, Kanus und Wäscheklammern werden gern aus Birkenholz gefertigt, der aus den Stämmen abgezapfte Saft soll gegen Haarausfall helfen. Ändert aber nichts daran: In dieser Woche üben die ersten Birken-Kätzchen schon für ihre ätzende Angriffswelle im Lauf des Monats.

Was machen wir so lange? Wohnstuben-Urlaub. Gucken raus in die Sonne (würde unserer empfindlichen Haut sowieso schaden). Heulen uns aus beim Telefonat mit Gleichgesinnten. Wir lesen, dass unser Leiden im 19. Jahrhundert noch "Heufieber" genannt wurde; das klingt ja schonmal dramatischer. Jedes elfte Kind leidet. Dörfler sind seltener geplagt als Stadtkinder. Hach, da haben wir’s. Unsere Großeltern haben Recht gehabt: Kinder sollen öfter mal Dreck futtern, das stärkt die Abwehrkräfte – und geschmeckt hat’s doch auch. Forscher prüfen die neu entdeckte alte "Bauernhof-Hypothese": die Kleinen, die täglich durch Kuhställe krabbeln, werden nicht so häufig von Allergien überfallen wie die desinfizierten, keimfrei hochgezogenen Stadtkinder. Ich persönlich glaube das sofort. Ob’s in meinem Alter noch was nutzt, wenn ich mir gelegentlich ein paar Löffel Blumenerde aufs Brötchen schmiere?

Den Frühling kann man sich übrigens auch gefahrlos in die gute Stube holen. Hören Sie mal:

Pharell Williams, Happy: https://www.youtube.com/watch?v=ZbZSe6N_BXs

Nina Simon, Feeling Good: https://www.youtube.com/watch?v=oHRNrgDIJfo&t=2s

Bing Crosby, "April Showers”: https://youtu.be/oWAdpfEs-8c

Kacey Musgraves, Butterflies: https://www.youtube.com/watch?v=BM5Xa1FvNQQ&t=1s

Beatles, Here Comes The Sun: https://www.youtube.com/watch?v=xUNqsfFUwhY

Olivia Newton-John und John Travolta, You’re The One That I Want, aus dem Musikfilm Grease: https://www.youtube.com/watch?v=7oKPYe53h78

Simon & Garfunkel, April Come She Will: https://www.youtube.com/watch?v=PYD-DIggB2k

Lovin’ Spoonful, Daydream: https://www.youtube.com/watch?v=M7u5SdjDSQQ

Felix Mendelssohn Bartholdy, Songs without words Op. 62 No. 6 Spring Song: https://www.youtube.com/watch?v=G-An92ld2b0

(Rainer M. Gefeller) +++

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